Wie der Zufall so spielt: vorletzte Woche las ich im Wartezimmer eines Arztes in einer medizinischen Fachzeitschrift das Wort „Grünholzfraktur“, wurde nach dem Erhaschen dieses Wortes aufgerufen und fragte mich, ob das nicht eher ein Thema für Botaniker und Floristen ist.

Gestern Abend wurde ich eines Besseren belehrt: Es ist doch ein medizinischer Fachbegriff. Aber von vorne:

Die Kinder spielten nach dem Abendessen im Garten, eigentlich hatte der Vater ein Auge auf sie. Plötzlich Geschrei, dann Ruhe, Schritte auf der Treppe und Aurelia brachte Nele zu mir. Diese hielt ihren Arm in genau der Schonhaltung, die wir schon vor über 40 Jahren als typisch für Unterarmbrüche gelernt hatten. Denn einmal im Jahr machte unsere Freundin Maria Müller bei Fahrten der Naturfreunde einen Erste-Hilfe-Kurs. Das war für sie Ehrensache, denn immerhin war sie Mitglied bei den Naturfreunden und im DRK, dort aber so viel als EH-Ausbilderin tätig, dass oft die Zeit für den anderen Verein fehlte. Wir Kinder durften schon von klein auf bei den Kursen mitmachen und es gab immer etwas zu lachen, z.B. wenn wir zu drei Mädchen von 5-7 Jahren den wohlbeleibten Köbes in die Stabile Seitenlage brachten.

Nele klagte über Schmerzen im Arm und sie konnte weder Arm noch Hand bewegen. Die sechsjährige Ersthelferin holte ungefragt ein Kühlpack und gab als Zeugin zu den Akten, dass Nele „auf die Hand, nicht auf den Kopf“ gefallen war. Den Vorwurf „Cari hat mich vom Trampolin geschubst!“ kommentierte Aurelia mit „Du hättest aber trotzdem nicht außen auf dem Rand laufen dürfen. Das hat Mama doch verboten!“ und einem nachgeschobenen mitleidigen „Aber sie hat Nele doch nicht weh tun wollen. Papa hat schon ganz schlimm geschimpft und sie allein ins Bett geschickt!“

Das ist für meine Töchter die Höchststrafe: Allein ins Bett gehen zu müssen. Zu einer solchen Maßnahme musste ich noch nie greifen. Oder vielleicht hätte ich gemusst und war mir dessen nicht bewusst. Nein, das mag ich einfach nicht. Egal, was vorher war: Vor dem Schlafengehen sollte meine Tochter angenehme oder zumindest neutrale Emotionen haben. Keine Angst vor dem Alleinsein. Keine Schuldgefühle, über die nicht mit ihr gesprochen wird. Wen wundert es, dass Cari diese Nacht mehrfach aufschreckte, nach Nele fragte und betonte, sie habe ihr nicht absichtlich weh getan und habe auch nicht gewollt, dass sie ins Krankenhaus kommt.

Naja, Daran gab es aber nichts zu rütteln. Auch wenn Oma den Sturz mit einem forschen „Das ist kein Bruch, sondern etwas anderes. Ich habe mir schon oft den Arm gebrochen. Das hat nie weh getan.“ abtat, war für uns beide klar, dass Nele ins Krankenhaus gehört. Und zwar ins Dorfkrankenhaus um die Ecke.

Im Sana waren wir die einzigen Patienten in der Notaufnahme. Die Dame am Empfang tippte um ihr Leben, denn die EDV-Abteilung hatte einen Computerausfall für kurz nach 20 Uhr angekündigt, nun war es schon 20:25 Uhr, die Rechner konnten also jederzeit ausgehen und sie wollte die Daten nicht nachträglich ins System einpflegen müssen. Während sie noch tippte, nahm die Schwester Kontakt zu Nele auf und baute solch ein nettes Klima auf, dass Nele munter mit ihr quatschte und ihre große Angst vergaß, sie müsse allein ohne Mama in der Klinik bleiben. Das hatte ihr nämlich ihre große Schwester – ganz Dramaqueen – erzählt.

Nele fand es spannend, „von innen fotografiert“ zu werden und gemeinsam mit inzwischen drei Ärzten und zwei Schwestern am Bildschirm zu fachsimpeln, wo genau der Knochen gebrochen ist. Die telefonisch hinzugezogene Oberärztin hatte wohl eine bessere Bildschirmauflösung oder mehr Routine, sie stellte eindeutig fest, dass es zwei Bruchstellen an beiden Unterarmknochen waren. Eine Grünholzfraktur, also ein Bruch bei Kinderknochen, der so aussieht wie die Bruchstelle bei jungen Asttrieben. Also gab es einen Gipsschienenverband vom Oberarm bis zur Hand. Noch dazu mit einem coolen blauen Abschlussstreifen.

Nein, ich gebe nicht zu, dass ich müde bin. Mir geht es gut!

Und da war er wieder: der typische Mama-Überraschungsmoment, als sich Nele angesichts dieser Diagnose darüber kaputt lachte, dass ihre beiden Schwestern schon längst schlafen und sie wach bleiben darf. Sie lachte über den unerfahrenen Arzt, der mir gegen ihre Schmerzen Paracetamol-Tabletten verschreiben wollte und vollkommen irritiert guckte, als ich ihn fragte, wie ich denn Schmerztabletten (keine Dragees/Kapseln/…, sondern sich schon im Mund widerlich schmeckende Tabletten) in ein dreijähriges Kind hinein bekommen sollte. Mit Unterstützung des zweiten Arztes und der Schwester konnte ich ihn auf Saft oder Zäpfchen runterhandeln, die ich beide im Haus hae und die wir nicht einmal benötigten, weil meine taffe Tochter die ganze Nacht über gar kein Schmerzmittel haben wollte.

Nach dem Gipsen auf dem Weg zum Auto quatschte sie noch eine Weile mit den Rauchern, die stationär in der Klinik waren und fütterte mit all meinem Münzgeld den Getränke- und Snackautomaten. Sie quasselte noch bis halb drei nachts mit Oma über ihre Erfahrungen im Krankenhaus und hat diesen Unfall deutlich besser verkraftet als ihre unverletzte Zwillingsschwester.

 

6 thoughts on “Grünholzfraktur

  1. Oh, du Liebe, welch eine Aufregung! Und das im momentanen Stress. Ich fühle mit euch und viele Genesungsgrüße von mir an Nele!!

Schreibe einen Kommentar zu Aurora Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert