Als vor einigen Monaten ein Bekannter starb, hörte ich am offenen Grab mehrfach, er habe ja auch „auf der Überholspur gelebt“.
Nach einem halben Tag Autobahnanreise, davon etwa 50 % auf der Überholspur, fällt mir dieser Spruch wieder ein. Und mir kommt in Erinnerung, dass mir dies auch schon einmal von einer Bekannten über mich selbst gesagt wurde. Naja, damit wären der Verstorbene und ich immerhin in guter Gesellschaft mit James Dean, von dem wohl jeder sagt, er habe auf der Überholspur gelebt.
Der Duden definiert die Überholspur u.a. so:
〈in übertragener Bedeutung:〉 ein Leben auf der Überholspur (ein hektisches, rasantes, rastloses Leben)
Duden online*
Ja, passt: Hektik prägt meine Kindheit und Jugend in der Jugendherberge, die vielen Jahre im DRK und Katastrophenschutz und den Alltag mit drei Kindern. Wer mich schon einmal auf dem Motorrad oder auf den Ski gesehen hat, nickt sicherlich beim Begriff rasant. Zudem war ich schon immer rastlos und fernwehgeplagt.
Um beim Autofahren zu bleiben:
Ja, vielleicht ist es die Überholspur, auf der ich lebe und auf der ich mich wohl fühle. Wenn ich ein Ziel vor Augen habe, möchte ich es auch erreichen. Und zwar in überschaubarer und planbarer Zeit.
Seit ich Kinder habe, verbringe ich ja auch viel Zeit auf dem Standstreifen, in Rastanlagen und Sackgassen. Ich fahre mich an manchen Buchprojekten so fest wie damals in der tunesischen Sahara – und muss meinen schweren Landy schwitzend und keuchend freischaufeln. Die dort (gefühlt:) verplemperte Zeit möchte ich manchmal einfach aufholen, um überhaupt ins Ziel zu kommen.
Oft ist es für mich leichter, auch an Wochenenden weiter zu rotieren, als abzubremsen und am Montag wieder neu Fahrt aufzunehmen.
Besonders als Mutter und Autorin – das sind zwei Tätigkeiten, bei denen es ja gar kein echtes Wochenende gibt.
Wenn ich eine Furt durchquere, bleibe ich ja auch nicht genau in der Mitte des Fließgewässers stehen und warte, bis die Schuhe oder der Fahrgastraum mit Wasser voll laufen!
Ob ich wohl öfter mal in den Glücksgang schalten kann? Darf ich egoistischer sein und mehr nach meinen Bedürfnissen schauen?
Wie viele Tage würden eigentlich vergehen, bis die Kinder überhaupt merken, dass die Mülleimer nicht geleert, das Geschirr nicht gespült, die Wäsche nicht gewaschen, die Schulhausaufgaben nicht erledigt, die Renovierung nicht fortgesetzt und die Blumen nicht gegossen wurden?
Kaum ausformuliert merke ich, dass ich mit der Frage vollkommen ins Schwarze getroffen habe: Den Kindern wäre es piepegal. Die sind glücklich, wenn sie Oma, Mama, sich gegenseitig und die Tiere haben. ICH würde darunter leiden. ICH wäre unglücklich.
Ich will ja all das, was ich erledige (naja, von der Steuererklärung einmal abgesehen). Ich will durch die Eifel und durch Wales wandern, weil ich es dort schön finde. Ich will schreiben, weil es neben dem Reisen immer noch mein liebstes Hobby geblieben ist. Ich will es aufgeräumter haben und den Müll aus dem Haus schaffen, bevor er stinkt. Ich will renovieren, damit ich mich im Haus wohl fühle. Ich will Äpfel für die Kinder schneiden, weil es mir auf den Wecker geht, dass sie bei ganzen Äpfeln nur zweimal reinbeißen und sie dann wegwerfen. Ich will beim Lesenlernen helfen, weil ich weiß, wie wichtig diese Kulturtechnik für ihr späteres Leben ist.
Ergo: Ja, ich lebe wirklich zeitweilig auf der Überholspur. Aber nur dort kann ich in den Glücksgang schalten, um die auf dem Standstreifen und im Weichsand verbrachte Zeit wieder aufzuholen und damit meinem Ziel näher zu kommen. Und dann muss eben, wenn freie Fahrt ist, auch richtig Gas gegeben werden. Ich eben so bin, wie ich bin. Und ich kann ja von Glück sagen, dass die Zeit der Pferdewagen vorbei ist. Sonst würde ich vielleicht sogar wie Ben Hur versuchen, zwei Wagen gleichzeitig zu steuern.
Übrigens fahre ich auch im Stau und im stockenden Verkehr gerne auf der Überholspur, weil es mir dort sehr leicht gelingt, mich für die Rettungsgasse einzusortieren, während es bei der oder den rechten Spur(en) ja doch ziemlich viele unfallträchtige Situationen gibt, bis alle sortiert sind.
P.S. Es ist oft auch einfach eine Frage der Definition. Während die Eingangs zitierten Überholspuren eher als Vorwurf gemeint waren, findet man bei der Suche im Netz auch ganz andere Erklärungen:
schneller / besser werden; aufholen; an die Spitze kommen; hinzugewinnen; sich zunehmend durchsetzen
Redensarten-Index*
Und daran ist nun wirklich nichts auszusetzen. Im Gegenteil, das ist ein guter Plan für das kommende Jahr, besonders de letzten beiden Aspekte…
*Werbung? Ja, indem ich diese Seiten zitiere.
Liebe Ingrid,
Ich wünsche dir, dass du glücklich bist/wirst und ein erfülltes Leben lebst. Das Wort ‚erfüllt‘ beinhaltet ja schon all das, was du in deinem Leben willentlich integriert hast, oder
Alles Gute für 2020 für euch 5 (mit Oma!)
Gruß
Myria Aurora
P.S. Ich lese Blogs immer auf dem Tablet, meistens im Bett. Aus irgendeinem Grund muss ich mich seit einem halben Jahr etwa immer neu bei WordPress anmelden, wenn ich einen Beitrag ‚liken‘ will. Da hierfür aber stets ein ans Handy zugeschickter Code nötig ist, dieses Gerät aber i.d.R. nicht in meinem Bett liegt, entfällt e tweder das ‚Liken‘ oder ich hole alle ‚Likes‘ irgendwann am PC nach. In diesem Fall bitte ich zu entschuldigen, dass es aufgrund der zeitlichen Abfolge so wirkt, als hätte ich die Beiträge gar nicht angeschaut.
Danke für deine netten Wünsche. Das wünsche ich dir auch.
zu deinem P.S.: mach dir dazu doch bitte keine Gedanken. Ich komme oft mehrere Wochen lang gar nicht dazu irgend etwas anderes zu lesen….