Januar 2022. Pandemie. In den ersten Schulen wehen weiße Fahnen aus dem Fenstern. Ich kann die Schulleiter, Lehrer und Schüler gut verstehen.

Heute morgen auf dem Schulweg sprachen wir darüber, wie lange die Pandemie nun schon dauert. Die Kinder sind mutlos. Sie gehen davon aus, dass sie bis zu ihrem letzten Schultag ihre Mitschüler und Lehrer nur mit Maske sehen werden und sich mehrmals pro Woche Stäbchen in den Mund und in die Nase stecken müssen.

Wir erinnern uns an den März vor zwei Jahren. Wir waren optimistisch und wollten alles tun, um dem Virus die Stirn zu bieten. Wir lachten über leere Seifen- und Klopapierregale. An hundertfach gesungene Händewaschlieder, verlängerte Osterferien, Homelearning, Lockdown, Abstand, Maske. Keine Schule, kein Schwimmen, keine Geburtstagsfeiern. Nix! Selbst die Spielplätze waren abgesperrt, vollkommen grotesk waren zum Teil sogar Flatterbänder und Ketten angebracht worden, um die Kinder vom Spielen an der frischen Luft abzuhalten.

In den Seniorenheimen und Kliniken starben die Alten und Vorerkrankten lautlos und einsam. Zuhause litten die Kinder, denn von ihnen ging ja eine enorme Gefahr aus. Sie waren unkontollierbar in ihrem Wunsch, andere Menschen zu umarmen. Zum Schutz ihrer Großeltern ertrugen sie alle Maßnahmen. Meine Kinder haben das Glück, ihre Oma im Haushalt wohnen zu haben. Andere Enkel und Großeltern hatten dieses Glück nicht und sahen einander monatelang gar nicht, konnten sich bei deren Tod nicht einmal verabschieden.

Meine Kinder sind leidensfähig geworden. Was aber auch heißt, dass sie auch wirklich gelitten haben.

Sie trugen alles mit Fassung. So wirkte es äußerlich. Aber ich konnte sie nicht davor beschützen, innerlich zu leiden.

Meine Töchter ertrugen den unfassbar schlechten Distanzunterricht, der weder organisatorisch noch inhaltlich brauchbar war.

Sie ertrugen meine Wutausbrüche und meine Tränen, wenn ich ihnen nicht erklären konnte, warum das alles so war.

Sie ertrugen es, monatelang ihre besten Freundinnen nicht sehen zu dürfen und ihre Geburtstage nicht feiern zu können.

Sie ertrugen abgesagte Wochenendausflüge, Urlaube und Recherchereisen, auf die sie sich schon gefreut hatten.

Sie ertrugen meine besorgte Miene, wenn es in Gesprächen um Zahlen, Schulöffnung, 3G, 2G, 2G+, Freitesten und Quarantäne ging.

Sie ertrugen es, dass ich ihnen immer häufiger aus finanziellen Gründen einen Wunsch ausschlagen musste.

Sie ertrugen den Unterricht mit Maske und bei Minustemperaturen.

Sie ertrugen Schnelltests, Gurgelstest, Spucktests, Popeltests und Hirnkitzel-PCR-Tests.

Die Unsicherheit wird zum täglichen Begleiter und macht meine Kinder fix und fertig.

Ist die Schule auf oder zu? Ist Präsenzpflicht, Wechselunterricht, Distanzunterricht oder gar keiner der dann „vorgezogene Ferien“ heißt? Mit wem komme ich im Wechselunterricht in eine Gruppe? Darf ich diese Woche die Maske am Sitzplatz abnehmen oder war das letzte Woche? Und beim Mittagessen? Sportunterricht mit oder ohne Maske, drinnen oder draußen? Darf ich zum Geburtstag Kuchen mitbringen oder nur einzelne Leckereien? Dürfen diese von Mama selbst gebacken und eingetütet sein oder vertraut die Schule unbekannten Fabrikarbeitern mehr als meiner Mama? Warum müssen wir bei der St. Martinsfeier zwei Stunden in der Kälte sitzen und dürfen trotzdem die Eltern nicht dabei haben? Warum werden draußen Kirmes, Weihnachtsmarkt und Karnevalszüge abgesagt? Ist das denn gefährlicher als Einkaufen?

In der Schule lutschen sie für den Pooltest auf Wattestäbchen herum und schieben sich für die Schnelltests ein Stäbchen in die Nase. Das machen sie mit einer unfassbaren Selbstverständlichkeit, denn sie wollen die anderen Kinder in der Klasse zu schützen. Aber sie haben mir heute morgen erzählt, dass sie meistens beim Schnelltest Angst haben. Sie haben Angst vor dem zweiten Strich. Was ist denn dann? Schimpft die Lehrerin mit mir? Kann Mama jetzt gar keine Recherchen mehr einplanen, weil sie ja jederzeit aus der Schule angerufen werden könnte, dass sie mich abholen muss. Und wenn sie grade beim Arzt ist? Muss ich dann allein nach Hause gehen? Geht das überhaupt? Wenn ich positiv bin, darf ich doch gar nicht mehr draußen herumlaufen.

Die Angst ist ein stetiger Begleiter meiner Kinder geworden. Sie haben Angst vor der Quarantäne, Angst von der Krankheit, Angst vor Long Covid. Ich versuche, ihnen die Angst zu nehmen. Ich suche seit zwei Jahren nach fröhlicheren Themen und Aktivitäten. Versuche durch sachliche Information den Schrecken der möglichen Erkrankung zu nehmen. Aber es holt uns immer wieder ein. Wenn ich nicht mit ihnen darüber spreche, machen es die Lehrer und Kinder in der Schule.

An manchen Tagen verfolgt es sie bis in den Schlaf. Sie erzählen morgens von Träumen mit riesigen Viren, die mit einem Haps die ganze Schule aufessen. Sie wachen nachts auf und greifen mit einem erleichterten „Du lebst noch!“ nach meiner Hand. Morgens sind sie unausgeruht und den ganzen Tag angespannt und angestrengt.

Die Klassenlehrerin hielt mir vorgestern in einem Vieraugengespräch vor, Nele sei vorlaut und Cari verträumt. Das mag stimmen. Beide hätten nach dem Testen keine Lust auf Unterricht. Das stimmt nicht. Die Mädchen sind 6 Jahre alt. Seit sie vier Jahre alt sind – also den Großteil ihres bewussten, aktiven Lebens – , besteht ihr Leben aus Angst vor einer im dem Verstand kaum fassbaren Bedrohung, aus tausend Regeln und der ständigen Ungewissheit. Da wird es doch wohl zulässig sein, unmittelbar nach dem Test ein paar Minuten je nach Naturell die Anspannung durch vorlautes Verhalten oder durch das Träumen von besseren Zeiten abzuschütteln?!

Die Große hat es noch schlimmer getroffen. Sie ist in ihrem Wesen so verändert, die Pandemie hat sie geholt und will sie auffressen. Aber noch hat sie eine Löwenmutter, die ihr Junges beschützt. Ich nehme Anspannung und Druck raus, wo es nur geht. Und deshalb darf Aurelia ab Montag noch ein weiteres Schuljahr zurück gehen, um bei einer sehr sympathischen Lehrerin all den Stoff der 3. Klasse nachzuholen, den ihr im Homelearning-Distanzunterrichts-Wechselunterrichts-Chaos vor fast zwei Jahren niemand vermittelt hat.

Wir wissen nicht, wie es weiter geht. Fest steht aber für mich, dass den Verantwortlichen die Kinder vollkommen egal sind. Statt in den vergangenen zwei Jahren das nötige Personal für die ohnehin schon überlasteten Menschen in Pflegeheimen, Kliniken und Laboren aus-/weiterzubilden, wurde immer klein-klein gedacht und gehandelt.

Jetzt stellt man fest, dass die Labore nicht mehr klar kommen, wenn sie nach einem positiven Pooltest alle Zweitstäbchen der Kinder aus dem Pool einzeln testen sollen. Das müssen dann die Lehrer und Schüler machen. Die Schulleitungen wurden gestern Abend nach 22 Uhr darüber informiert, wie das ab heute morgen zu handhaben ist. Das ist eine Unverschämtheit! Die Zeit von Lehrern und Schülern ist ja nicht so wertvoll wie die von Labormitarbeitern. Damit geht jedes Mal eine ganze Unterrichtsstunde verloren, sagte mir die Klassenlehrerin. Das lässt sich ja gar nicht mehr aufholen und wir müssen es mit umfangreicheren Hausaufgaben nachholen. Also schieben sich die Kinder wieder einmal voller Angst ein weiteres Stäbchen in die Nase und müssen eine Viertelstunde darauf warten, ob sie in der Klasse bleiben dürfen oder nach hause geschickt werden. Das ist für Lehrer, Schüler und Eltern eine Zumutung und zeigt, dass das ohnehin dilettantische Vorgehen der Politik nun vollkommen gedanken- und rücksichtslos weiter geführt wird.

Was mögen die sich denken? Wahrscheinlich gar nichts. Oder: Immerhin sind ja bald Wahlen. Kinder sind ja zum Glück nicht wahlberechtigt, also kümmern wir uns lieber um andere Themen.

Hier wird von den Verantwortlichen mit den Interessen der Kinder gespielt. Frau Gebauer und die anderen Entscheidungsträger soll doch endlich zugeben, dass sie gar kein Interesse am Wohlergehen der Kinder hat und die Schulen bewusst durchseuchen will. Das wird sich rächen. Das Karma wird sie am Allerwertesten packen und sie werden ihr nächstes Leben hoffentlich ein Rasenstück im Park, auf das jeden Tag ein anderer Hund kackt!

Also: Falls noch jemand Stoff für die weißen Fahnen benötigt – ich helfe gerne und gebe euch alle meine weißen Laken, Tischtücher und T-Shirts.

6 thoughts on “Weiße Fahne

  1. Naja, nein, es gefällt mir nicht. aber der Text gefällt mir. Ob sich die kleinen noch an ein Leben vor Corona erinnern?

  2. Oh je, ich kann mir Euer Leid nicht im Erntferntesten vorstellen. Ja ich sitze seit 2 Jahren zu Hause und arbeite von dort, habe ich vorher auch schon viel getan. Ja ich war auch nicht wirklich im Urlaub die letzten 2 Jahre, 2 Mal ein paar Tage Schleswig-Holstein. Ja auch ich hatte weniger Treffen, vor allem nicht spontan.
    Aber ich habe nie wirklich Angst gehabt. Ich habe alles so getan wie vorgesehen und konnte alles lassen wenn ich nicht wollte. Ich konnte, im gesetzlichen Rahmen, frei entscheiden. Ich bin geimpft und teste mich wenn ich spezielle Termine habe oder zu meinen Eltern fahre.
    Ich bemühe mich, mich an die Regeln zu halten.

    Aber ich bin wütend, dass man nach 2 Jahren immer noch „überrascht“ ist. Ich bin wütend wenn Wien mehr PCR Tests am Tag macht als wir in ganz Deutschland. Ich bin wütend, dass Menschen keine Verantwortung für sich und auch andere übernehmen wollen und ihnen auch noch eine Bühne (Spaziergänge) gegeben wird.
    Ich bin einfach nur noch wütend und verzweifelt…..und dann sehe ich Eure Probleme und werde ganz klein. Meine Probleme sind Luxusprobleme aber Eure sind real.

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