Außerschulisches Lernen – ich liebe es.

Manches bleibt auch nach etlichen Wiederholungen im Unterricht total unverständlich, ist aber in einem anderen Kontext vollkommen logisch und ohne weiteres Nachdenken zu verstehen. Schwerkraft und Fliehkraft zum Beispiel. Theoretisch ziemlich kompliziert. Aber an einem Trapez hängend ganz simpel zu erfassen.

Nele hatte zwei Wochen keinen regulären Unterricht. Karneval und Zirkusprojekt kamen zusammen. Und die Kinder haben mehr gelernt, als in der gleichen Zeit im Klassenraum möglich gewesen wäre. Das Meiste davon steht nicht einmal im Lehrplan, ist aber so viel wichtiger. Es ging um Selbstorganisation, Geduld, Verantwortung, Zuverlässigkeit, Umsicht, korrekte Selbsteinschätzung, Mut, Resilienz, Respekt, Hilfsbereitschaft, Teamfähigkeit, Vertrauen, Körpergefühl und den Umgang mit Lampenfieber.

Schon vor den eigentlichen Projekttagen wurden die Kinder aller Klassen in jeweils drei Gruppen eingeteilt. So kamen jeweils knapp 100 Kinder mit roten, blauen und grünen T-Shirts aus der Schule. Alle Klassengrenzen waren aufgelöst, selbst auf beste Freunde wurde keine Rücksicht genommen. Die anfängliche Verwirrung und Traurigkeit wich schnell, denn Nele kam mit den Kindern der Parallelklassen und anderen Schuljahre in Kontakt, mit denen sie vorher wenig zu tun hatte – und die sie jetzt auch nett findet.

Der Kartenverkauf war straff geregelt. Jede Familie durfte bis zu vier Karten kaufen. Erst nach dieser ersten Verkaufsrunde wurden weitere Karten angeboten. Nele war voller Sorge, denn sie war genau am Verkaufstag krank und fürchtete, dass wir nun die Vorstellung nicht besuchen konnten. Doch die Karten reichten für alle Interessenten.

Der erste Projekttag begann mit einem Ausflug in den Zirkus. Alle Bereiche wurden erkundet, die einzelnen Gruppen vorgestellt: Bodenakrobatik, Fakir & Feuer, Clowns, Zauberpiraten, Trapez, Seiltanz, Jongleure, Trampolinis (Sprungakrobatik) und Alte Kameraden (Turnen mit viel Humor). Nele kam jubelnd nach Hause, denn sie sie durfte am Trapez mitmachen.

Jeden Tag kam sie mit leuchtenden Augen vom Training. Wenn wir fragten, hörten wir stets ein einsilbiges „Schön!“. Bohrten wir weiter nach, hob sie bedauernd die Arme und sagte: „Ich darf euch nicht verraten, was wir machen.“, und ergänzte abwechselnd: „Es soll doch eine Überraschung sein.“ und „Wenn ihr wüsstet, was wir machen, würdet ihr es verbieten!“

Halt, doch, zweimal erfuhren wir etwas: An einem Tag erwähnte sie, dass eine ihrer Trapezkolleginnen zu viel Angst vor der Höhe hat und lieber die Gruppe gewechselt habe. Anderntags erzählte sie lachend: „Ich bin vom Trapez gefallen, aber zum Glück nicht auf den Kopf, sondern auf den Zirkusdirektor!“ Danach schwieg sie wieder zu den Inhalten des Trainings und der Show.

Umso ausführlicher erzählte sie von neuen Freundschaften, abenteuerlichen Linienbusfahrten, langen Fußwegen im Pladderregen und den kleinen Zirkuskindern, das jüngste war bei Projektbeginn erst wenige Tage alt. Sie fiel nach der Schule ganz groggy aufs Sofa und schlief tief und fest bis zum Abendessen.

Außerdem kleckerten täglich neue Bekleidungswünsche ins Haus. An einem Nachmittag hieß es, dass sie bis zum nächsten Tag weiße Turnschläppchen benötigt. Wir hüpften sofort ins Auto und kauften im Decathlon* das letzte Paar in Ihrer Größe. Auch weiße Socken und eine weiße Leggings hatten wir nicht im Haus und mussten für weitere Einkäufe losziehen. Auch bei den Eltern wurden also Fähigkeiten wie Gelassenheit, flexible Zeitplanung, Improvisationstalent und Spontanität trainiert.

Dann kam der große Tag. Mein Geburtstag war nachrangig. Alles drehte sich nur um den Auftritt. Die Haare mussten frisch gewaschen („Nein, gestern gewaschen ist nicht frisch!“) und streng zu einem hohen Zopf gekämmt („Maaaaaama, das ist nicht glatt genug, nochmal!“ werden. Die Kinder bekamen vor der Vorstellung keinen Bissen und keinen Schluck herunter. Ich erhielt noch letzte Instruktionen: „Mama, nicht traurig sein, wenn du mich nur anfangs beim Reinlaufen siehst und danach nicht mehr. Wir sind erst ganz am Ende dran.“

Die Show begann und wir hatten Spaß an den Aufführungen, beeindruckt von den Leistungen, die die Kinder nach nur sechs Trainingstagen zeigten. Die Kunststücke waren (fast immer) mit guter Musik untermalt. Der Programmverantwortliche mag offenbar Rockmusik, was mir sehr sympathisch ist. In der Pause stürzten sich alle ins Futterzelt, während wir erst einmal in die Manege gingen, um uns ein Foto der Trapezkünstlerinnen fürs Familienalbum zu kaufen. Dabei sprach mich eine junge Künstlerin an, die ich erst auf den zweiten Blick erkannte:

Wow! Was echte Profis mit wenigen Handgriffen, ein paar Pinselstrichen und etwas Glitter zaubern können, ist grandios!

Tatsächlich mussten wir lange auf Neles Auftritt warten, denn das Beste kommt immer zum Schluss. Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass Alfons Casselly in so kurzer Zeit aus einer robusten Basketballerin ohne Tanzbegeisterung ein solch graziles Wesen zauberte.

Zuerst die Fledermaus:

Dann verwandelte sich in ein Brett (es ging noch viel höher und durch die ganze Manege, aber so schnell, dass wir keine scharfen Fotos davon haben):

Der krönende Abschluss für Nele war die Fledermaus im Schwung:

Das war der perfekte Abschluss für einen grandiosen Zirkusabend. Die Trapezakrobaten verbeugten sich zu tosendem Beifall.

Beim abschließenden Einzug aller Artisten wurde Cari sehr traurig. Sie hätte auch gerne mitgemacht, doch es war ihr durch den Schulwechsel nicht mehr möglich. Das kann ich soooooo gut verstehen, sie wäre bestimmt eine mutige Feuerspuckerin oder eine elegante Seiltänzerin geworden. Nun tröstet sie sich damit, dass sie ihren Geburtstag im Zirkus feiern darf.

Eine halbe Stunde nach Vorstellungsende hatten wir unseren Star zurück.

Müde, hungrig und glücklich.

Erwachsen ist sie geworden durch dieses Zirkusprojekt. Sieht diese Achtjährige nicht eher wie eine 18-Jährige aus?

Ich danke dem gesamten Team des Circus Jonny Casselly* und der Don Bosco Schule dafür, dass die Kinder eine solch großartige Erfahrung machen konnten. Danke auch an Alfons und Annekatrin für die Erlaubnis, diese Fotos hier im Blog zeigen zu dürfen. Tina, du bist meine Rettung bei Technikfragen.

Ich habe mich mal an Videos versucht (Könnt ihr sie abspielen?)

*Werbung? Ja, voller Überzeugung, aber unentgeltlich.

2 thoughts on “Circus Jonny Casselly – Ein Zirkusprojekt

  1. WOW!
    Auf den Fotos hätte ich nele nicht erkannt. Ja, sie sieht älter aus. Und das am Trapez, vor allem auf dem 2. Video hätte ich mich nie getraut.

  2. Wow!
    Welch ein Mut, besonders nach dem Sturz während der Probe. Bei dem zweiten Video blieb mir kurz das Herz stehen, als er sie nur noch an einer Hand hielt. Und sie vertraut ihm und verbeugt sich strahlend.
    Sag mal, ist dieer Mann noch zu haben?

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