Das Wort Enttäuschung ist eindeutig:

Ent-Täuschung.

Das Präfix „ent-“ geht Verben voraus, bei denen etwas getrennt oder entfernt wird. So ist eine Enttäuschung eben die Trennung von einer Täuschung. Ein durchaus positiver Wortsinn, oder?

Seit mir das vor einigen Tagen bewusst geworden ist, geht es mir besser. Die Welt ist nicht so, wie man sie gerne hätte. Man täuscht sich über Tatsachen, Umstände, Zusammenhänge, sogar über Gefühle und Menschen. Meist täuscht man sich selbst und wird nicht einmal von einem anderen getäuscht. Das Ende der Täuschung tut zwar manchmal weh, ist aber eben auch ein Schritt auf den Boden der Tatsachen. Heute morgen sprach ich mit Aurelia länger darüber und wir fanden viele Beispiele aus jüngster Zeit:

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Vor etwa einem Jahr bekamen wir eine hübsche Weck-Flasche mit einer Backmischung für einen Hefezopf geschenkt, MHD war 8/2017. Wir freuten uns schon lange auf den Tag, an dem wir diesen Zopf backen würden. Voller Elan machten wir uns ans Werk, hielten uns genau an die Vorschrift und freuten uns auf einen köstlichen Hefezopf mit Rosinen und Mandeln. Was in einer solch schönen Flasche daher kommt, musste einfach fantastisch schmecken. Dieser Gedanke war allerdings eine Täuschung. Die Trockenhefe ging nicht auf, der Zopf blieb hart und schmeckte unfassbar schlecht.

Am selben Tag folgten wir dem telefonischen Zuruf „kommt ruhig rüber“. Schon bald nach unserer Ankunft merkten wir, dass „kommt ruhig rüber“ nicht automatisch bedeutet „wir freuen uns über euren Besuch und kümmern uns ausschließlich um euch“. Bei diesem Gedanken unterlagen wir einer Täuschung. Der Junge, mit dem Aurelia spielen wollte, war mit einem Freund unterwegs. Außer uns gab es noch weiteren Besuch, der die Dame des Hauses so in Beschlag nahm, dass wir uns unwohl fühlten und bald wieder gingen.

Am Donnerstag hatte ich Geburtstag. Richtig feiern wollte ich nicht, freute mich aber über die spontanen Gäste. Insgesamt vier Menschen hatten sich ausdrücklich angesagt, die aber alle nicht erschienen und auch erst am Abend bzw. Folgetag einen Grund für ihr Nichterscheinen präsentierten. Aurelia und meine Mutter waren darüber sauer. Sie hatten sich über meine Wichtigkeit für diese Menschen getäuscht oder unterlagen einer Täuschung über deren Fähigkeiten, sich gegen einen Arbeitgeber zu wehren, der plötzlich Dienstpläne änderte. Ich konnte nur die Schultern heben und seufzen. Soooo oft hatte ich an meinem Geburtstag gehofft, dass der bestimmte Freund oder die bestimmte Person kommt. Das Thema ist schon seit etwa 20 Jahren bei mir durch. Wer kommt, ist da.

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Die Äuglein sind noch etwas rot vom Weinen, aber sie strahlt wieder

Für Samstag war Aurelia mit ihrem Freund Jonas verabredet. Zuerst wollten sie mit seinem Vater zu Toys R Us fahren, danach mit mir zum Karnevalszug nach Brühl-Ost. Kurz nachdem die beiden bei mir eingetroffen waren, wollte Jonas lieber nach Hause, weil sein Papa den frisch gekauften Dinosaurier im Auto hatte. Aurelia weinte bitterlich. Sie hatte sich wohl über ihren Stellenwert bei Jonas getäuscht, wenn ihm das neue Spielzeug wichtiger war, als gemeinsame Zeit mit ihr. Ich tröstete sie, versprach Jonas, ihn auf dem Weg zum Karnevalszug nach Hause zu bringen und wir drei sprachen darüber, warum Aurelia so traurig ist. Jonas war bestürzt darüber, dass sein Wunsch, mit dem Dino zu spielen, so bei Aurelia angekommen war.

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Puh, ganz schön warm unter dem Helm

Sofort klärte er die neuerliche Täuschung auf: Wenn er die Wahl hat, allein mit seinem neuen Dino zu spielen oder Zeit mit Aurelia zu verbringen, dann ist ihm seine Freundin wichtiger als das „doofe Plastikteil“. Wir fanden eine gute Lösung für alle: Gemeinsam schauten wir uns den Zug an und beide spielten danach gemeinsam bei Jonas zuhause mit dem Dino. Während die beiden Großen bei strahlendem Sonnenschein „Kamelle“ schrien und mit glühenden Wangen Süßigkeiten in ihre „Beutebeuteln“ sammelten, amüsierten sich meine Mutter und ich über die Kleinen, die alle Hände voll zu tun hatten mit vielen Details ihrer Kostüme, den geworfenen Bonbons und den vielen verrückt angezogenen Menschen, die  einfach auf sie zugingen und ihnen Stofftiere schenkten. Ein gutes Training für die eigentliche Straßenkarnevalswoche.

Bei eBay Kleinanzeigen hatte ich neben einigen anderen Dingen auch sieben Treppenschutzgitter annonciert. Eine Dame rief an und bat mich, ihr alle sieben Stück zu reservieren, sie bewohne ein Haus und benötige sogar insgesamt acht Stück. Zehn Tage wartete ich und vertröstete andere Interessenten. Am elften Tag, letzten Montag, rief ein anderer Interessent an, machte es wichtig und dringend, wollte auch alle sieben Gitter haben und wir verabredeten uns für Sonntag. Noch am Samstagabend vergewisserte er sich wegen Anschrift und Uhrzeit. Verabredet waren wir für 11-12 Uhr. Um 11:46 schrieb er mir, dass er nicht kommen könne, weil er arbeiten müsse. Ich möge ihm die Gitter bis Samstag verwahren, da komme er zu „100 %“. Nein, noch einmal wollte ich nicht warten und andere Interessenten vertrösten. Das schrieb ich ihm auch. In einem freundlichen Ton, denn er konnte ja nichts dafür, dass ich in Bezug auf die Zuverlässigkeit von Kaufinteressierten einer Täuschung nach der anderen unterliege. Während ich diesen Beitrag schreibe, hätten eigentlich eine Kaffeemaschine, ein Staubsauger und ein Paket Babykleidung abgeholt werden sollen, die ich zu verschenken hatte. Zwei sind gar nicht erschienen, eine sagte mir zumindest ab. So sind sie eben, und eigentlich (ich liebe dieses Wort!) weiß ich das doch auch. Ich müsste es mir nur auch ‚mal merken, um daraus auch Erkenntnisse zu ziehen, d.h. mich mit Interessenten nur noch zu Zeiten verabreden, wenn ich ohnehin daheim bin und es egal ist, ob sie kommen oder nicht.

Am Ende lachten Aurelia und ich vor dem Zubettgehen herzhaft über eine Enttäuschung, die wir – um Jahrzehnte versetzt – beide machen mussten: Sie hat wochenlang fleißig die Rubbellose von REWE gesammelt und freigerubbelt, weil es dort ja Reisen zu gewinnen gab. Gestern bekam sie in einem Gespräch zwischen Oma und Mama mit, dass abends die große End-Verlosung war. Heute morgen fragte sie, wohin unsere Reise denn nun geht und war enttäuscht, dass wir nicht gewonnen hatten. Ich erzählte ihr, dass ich als Sechsjährige an einem Gewinnspiel im Micky Maus Heft teilgenommen hatte und nach ein paar geduldigen Wochen meine Mutter fürchterlich nervte, weil der angepriesene Holzwerkzeugkasten immer noch nicht geliefert worden war. Damals musste ich lernen, dass nicht jeder Teilnehmer etwas bekommt und bei einem Gewinnspiel sehr viel mehr Teilnehmer leer ausgehen als gewinnen. So wie eben auch sehr viel mehr Leute vergeblich REWE-Codes eingegeben haben, als am Ende Reisen verlost wurden. Geteiltes Leid ist in diesem Fall wirklich halbes Leid. Wir trösteten uns gegenseitig ein wenig, fanden es aber gar nicht mehr so schlimm. Wir waren ja nicht einmal von anderen getäuscht worden. Wir hatten uns getäuscht. Selbst. Deshalb war die Ent-Täuschung geradezu wohltuend, denn der Verlust einer Täuschung ging mit einem enormen Erkenntnisgewinn einher. Wie fast immer bei Ent-Täuschungen.

 

 

 

9 thoughts on “Enttäuschungen sind Ent-Täuschungen

  1. Herzlichen Glückwunsch nachträglich von mir zum Geburtstag!

    Ich versuche auch aus jeder Enttäuschung etwas zu lernen….
    Es fällt mir aber schwer zu sehen wenn meine Kleine enttäuscht ist,auch wenns nun mal zum Leben dazu gehört…

  2. Ich weis es ist fies erleichtert über das „Leid“ anderer zu sein, aber es erleichtert doch sehr, wenn man erfährt, das andere ähnliche Erfahrungen machen. Da ist es etwa so wie: „geteiltes Leid ist halbes Leid“.

    Eine Kollegin, von der ich dachte, eine Freundin, reagiert nichtmal mehr wenn ich bei ihr bescheid gebe dass ich mal wieder in Bonn bin und gestern hat mich wieder der Paketbote (diesmal war es DHL , sonst eher HERMES) enttäuscht. Ich sitze zuhause, habe das Paket extra von Samstag auf Montag verschoben, weil wir Samstag unterwegs waren. Es kommt eine Mail: „Ihr Paket ist ausgeliefert und bei den Nachbarn abgegeben“. Dazu muss ich sagen dass es ein Futterdosenpaket von Zooplus war und ich im 1. Stock wohne. Ich ging also runter und holte mein Paket ab, es war vor knapp 30 min abgegeben worden. An meiner Klingelanlage war deutlich zu erkennen, das der Paketebote nicht mal geklingelt hatte (hätte ich ja es ja theoretisch überhört haben).

    1. Ja, die Paketboten. Die sind bei uns beiden ja wirklich ein Thema für sich. Ich bin inzwischen aber wirklich in einem Stadium angekommen, in dem sie mich nicht mehr enttäuschen können, weil ich nicht mehr allzuviel von ihnen erwarte. Highlight am Dienstag: Ich trete aus der Tür und laufe vorne zur Straße, um die Mülltonne reinzuholen. Der DHL-Lieferwagen fährt an mir vorbei, der Fahrer winkt mir freundlich zu, denn wir kennen uns ja. Acht Minuten später – ich sortiere noch Krams für den Bauhof ins Auto ein, erreicht mich die Benachrichtigung, dass das Paket nicht zu gestellt werden konnte, weil der Bote mich nicht erreicht hat.Stimmt ja auch, dazu hätte er ja anhalten müssen. Würde ich mich über jede dieser Situationen ärgern, hätte ich schon längst ein Magengeschwür.

  3. Ich bin dir von Kidsgo hierher gefolgt und wollte nur mal sagen, dass ich dein Weblog sehr gerne lese. Und gerade der Artikel über Ent-Täuschung war super, habe ich mir noch nie Gedanken drüber gemacht und wie du auch schreibst, es hat einen „positiveren“ Geschmack und das gefällt mir. Schöne Grüße aus Nordhessen. Und die Erfahrung mit ebay Kleinanzeigen habe ich auch gemacht. Ich reserviere generell nichts mehr, höchstens bis zum Abend oder so. Wer zuerst da ist, hat es.

  4. Liebe Ingrid

    das ist aber wirklich eine Serie an ENT-täuschungen.
    Insbesondere wenn Kinder ent-täuscht, versetzt oder ähnliches werden, bin ich besonders traurig. Lange habe ich es genau aus diesem Grund vermieden mich mit den Eltern des Jungen in einen Konflikt zu begeben, der mit meiner Enkelin so gerne spielt. Endergebnis wird nach meiner Vermutung nun sein, dass der Kleine nicht mehr mit meiner Enkelin spielen darf, denn der Stresspegel wegen meines Schweigens wurde einfach zu hoch.

    Ansonsten habe ich wenig Erwartungen an mein Umfeld, halte mich möglichst unabhängig von Anderen. Vielleicht nicht so klug, aber einfacher 😉

    LG Elke

    1. Liebe Elke, du sprichst mir aus der Seele. Wenn die Kinder enttäuscht sind, schwanke ich zwischen tiefer Traurigkeit und DemVerursacherindieFresseschlagenwollen. Das geschieht leider so oft, dass ich sie nicht vollkommen davor schützen kann, indem ich solche Situationen umgehe. Ich bin daher so froh darüber, dass wir nun eine andere Einstellung dazu gefunden haben, die uns manch eine enttäuschende Situation etwas leichter macht.

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