Werde ich empfindlicher oder gibt es immer mehr Menschen, die mich missionieren wollen?

Das muss nicht immer in religiöser Hinsicht sein. In religionsfernen Zeiten wie diesen ist ja manchem Zeitgenossen die Ernährung, der Umweltschutz, der Sport, die Erziehung oder die Gesundheit eine eigene Religion. Nicht umsonst spricht man von Fußballgott, vom Modepapst und vom Ernährungsguru.

  • Eine Bekannte ist Mitglied einer Freien Evangelischen Gemeinde. Seit geschlagenen sieben Jahren vergeht kein noch so kurzes Gespräch, ohne dass sie mir mindestens einmal erläutert, dass ich nur durch eine Nachfolge auf Jesus zu Gott finde und nur dann bei der Apokalypse zu den Auserwählten gehören werde. Sie ist eigentlich ganz lieb, aber ich mag gar nicht mehr mit ihr sprechen, weil sie auf meinen Wunsch, dieses Thema auszulassen, nicht eingeht.
  • Ein erheblich übergewichtiger Freund nimmt seit mehr als zwei Jahren alle möglichen Pille, Kapseln, Globuli und Pülverchen zum Abnehmen. Er gibt immense Beträge dafür aus. Wann immer wir uns sehen und das Thema auch nur im Entferntesten Richtung Essen geht, will er mich davon überzeugen, diesen Krams auch zu mir zu nehmen. Abgenommen hat er noch kein Gramm. Aber er bleibt dabei, mich als Konsumentin dieser Dinge werben zu wollen, weil sie ja soooo gut auf das allgemeine Wohlbefinden und die Gesundheit wirken. Aha, vor zwei Jahren konnte man davon abnehmen, jetzt wird man nur noch gesund davon. Als er letzte Woche ganz manipulativ fragte „Ist dir denn deine Gesundheit so egal? Denkst du denn gar nicht an deine Kinder?!“, platzte mir der Kragen. Ich geigte ihm erst einmal meine Meinung und fragte ihn dann, wie er dazu komme, solch eine gequirlte Sch… zu erzählen. Die kann er doch selbst nicht glauben, seine Waage und seine Gürtel sprechen doch eine eindeutige Sprache. Kleinlaut erklärte er mir, dass er nur genau die Formulierungen verwendet hat, die in den Verkäuferschulungen gelehrt werden. Aha, der Gebietsleiter als Guru, dem man alles nachplappert, egal wie sehr die Realität davon abweicht. Au Backe!
  • Eine DRK-Kollegin hat ihr Heil in einer anderen Ernährungsumstellungs-Heilpulver-Kombination gefunden und spamt seit Wochen täglich so glücksseelige Facebook-Postings und private Nachrichten, dass ich fast glaube, dass sie sich einer Sekte angeschlossen hat.
  • Wenn ich (vor den Kindern, jetzt fehlt uns die Zeit) mit einer türkischen/muslimischen und einer indischen/hinduistischen Frau aus meiner Bekanntschaft essen gehen wollte, brauchten wir 2-3 Minuten, um um uns auf ein Ziel zu einigen. Jede von und fand etwas Leckeres auf der Speisekarte, egal wo wir hin gingen. Dann aßen wir alle drei voller Genuss und erzählen über 1001 Thema. Mit meiner deutschen, katholischen Schulkameradin habe ich seit ihrer „Konvertierung“ zum Veganismus nichts mehr gemeinsam gegessen, obwohl wir gemeinsame Zeit hatten. Zweimal gemeinsamer Kräutertee war seither das Äußerste – und nicht einmal den konnte ich einfach so vor mich hin nippen, sondern wurde so lange mit veganen Grundsatzvorträgen beschallt, dass ich es zu einem dritten Treffen gar nicht mehr gerne kommen lassen möchte. Ich esse gerne fleischlos und wäre auch bereit, in ein veganes Restaurant zu gehen, aber ich möchte nicht permanent belehrt werden und über mehr als nur dieses eine Thema reden.
  • Eine ganz liebe ältere Bekannte überschüttet meine Kinder bei Geburtstagen, Weihnachten und Ostern immer mit Geschenken. Und mich mit Ratschlägen. Die Themenpalette reicht von „Du MUSST alle drei spätestens um 19 Uhr am Schlafen haben!“ über „Du MUSST ‚mal ein paar Wochen allein in Urlaub fahren, ohne Kinder, ohne Verpflichtungen“ und „Du MUSST Matetee trinken, der hat eine viel bessere Detox-Wirkung als grüner Tee!“ bis hin zu „Du MUSST Nele die Haare auch so kurz schneiden wie Cari, damit man erkennt, dass es Zwillinge sind!“
  • Cari geht morgens und abends aufs Töpfchen. Im Kindergarten steht ein wunderschönes Mini-Mini-WC, aber keiner führt Cari tagsüber dort hin. Dennoch sagte mir diese Woche die eine Erzieherin „Sie MÜSSEN aber langsam zusehen, dass die Zwillinge aus den Windeln raus kommen!“ und die Kollegin „Sie DÜRFEN Cari NICHT aufs Töpfchen setzen, so lange Nele noch keine kognitive Verbindung zu ihrem Schließmuskel hat!“
  • Letzte Woche bei einem Probetraining sagt die Trainerin zu mir: „Waaaaaas! Du nimmst mehr als drei Mahlzeiten am Tag zu dir ??? Das MUSST du sofort einstellen. Dein Insulin spielt sonst nach kürzester Zeit verrückt und du wirst Diabetikerin!“ Aha, eigentlich wollte ich meine Muskeln trainieren kommen.
  • Seit Jahren zahle ich reduzierte Müllgebühren, weil ich mit einer Minimülltonne auskomme. Ich bin ja militante Mülltrennerin und räume meiner Mutter sogar die Tüte mit dem Plastikmüll aus, wenn sie sich davor ekelt, ein von den Kindern in die Tüte geworfenes angelutschtes Gummibärchen herauszufischen. Fein säuberlich trenne ich Papier, Metall, Kunststoffe, Glas, Batterien und Kompost. Zu letzterem musste ich vorletzte Woche einen Nachweis erbringen, also zog ich fotografierend durch meinen Garten, um den aktiven Komposthaufen, den Ruhekompost und die (Vor-)Gartenflächen zu dokumentieren, auf die der fertige Humus aufgebracht werden kann. Über den Gartenzaun erhielt ich ungefragt den nachbarlichen Ratschlag „Du MUSST Kompostwürmer in den Haufen setzen! Keine normalen Regenwürmer, sondern Kompostwürmer!“ – „Nein, muss ich nicht, unser Kompost ist sehr gut.“ – „Kann gar nicht sein! Aber gegen deine Nacktschnecken MUSST du dir Laufenten ausleihen!“ Ich drehte mich wortlos um und ging in die Küche. Ich habe gar keine Nacktschnecken. Und wenn Laufenten so gut sind, warum sehe ich sie dann nicht im Nachbargarten herumlaufen?
  • In der Physiotherapiepraxis gibt es einen neuen Mitarbeiter, der mich zweimal hintereinander behandelte. Ich bin ja seit Jahren wegen chronischer Leiden dort in Behandlung und weiß, dass es für mich durch Massagen, Manuelle Therapie und Krankengymnastik nur Linderung, aber keine Heilung gibt. Wenn ich dann aber von einem wildfremden Menschen, der mich das erste Mal behandelt, zu hören bekomme: „Sie MÜSSEN dringend Situps machen, um Ihre Bauchmuskulatur zu stärken!“ und er auf meine medizinisch begründeten Einwände nicht eingeht, fühle ich mich unwohl. Alternative Übungen für die Bauchmuskeln (nach Vorgabe meiner Ärzte bitte die schrägen Bauchmuskeln) bot er mir trotz wiederholter Nachfragen nicht an. Meine einseitigen Muskelverhärtungen erklärte er mir mit „Das haben alle Mütter von Kleinkindern, die Rechtshänderinnen sind!“ (Blöd nur, dass ich – umerzogene – Linkshänderin bin). Am Ende erklärte er mir noch, dass ich keine Wunder erwarten könne, weil „ja jahrelang bei Ihnen nichts gemacht wurde…“. Ein gutes Bild hat er von seinen Kollegen und seiner Chefin!
  • Gestern haben wir das Donk-EE Miet-Lastenfahrrad von Naturstrom ausprobiert. Meine Gesprächspartnerin freute sich darüber, dass ich schon Naturstrom-Kundin bin und beklagte, dass so viele andere Interessenten dreckigen Strom nutzen. Sie erzählte mir, dass sie nur Glasflaschen verwendet, weil Kunststoffflaschen ja schädlich sind. Inzwischen duzte sie mich und versuchte mich zu bekehren, kein Leitungswasser mehr zu trinken. Wie ich diese manipulativen Sätze hasse, wie zum Beispiel „MEINEN Kindern würde ich niemals Leitungswasser geben!“ und „Du MUSST unbedingt das Wasser filtern wegen der vielen Schadstoffe und Medikamentenrückstände!“.  Zwischendrin begutachtete sie Aurelias Frisur und erklärte mir: „Du MUSST den Pony ganz kurz schneiden, das sieht bei Mädchen viel schöner aus!“. Als nach der Probefahrt das Gespräch weiter ging und meine gelangweilte Aurelia die Nase hochzog, hieß es „Wenn du SOFORT da links in die Apotheke gehst und die XY-Globuli in 10facher Potenz kaufst, gibt es keine Erkältung. Es MUSS aber SOFORT sein!“ Aha, bei diesen Globuli reicht das bloße Kaufen, wie praktisch!

Mir würden gesunde Ernährung, Umweltschutz, Nachhaltigkeit,… viel mehr Freude machen, wenn deren Verfechter toleranter wären. Diese Grenzüberschreitungen, dieses Einmischen in mein Leben, dieses „du MUSST“, diese Belehrungen gehen mir soooooo auf den Wecker. Ist denn in Gesetz erlassen worden, dass Formulierungen wie „Versuch doch ‚mal…“ oder „du kannst…“ vollkommen verbietet und ein „du solltest“ nur in begründeten Einzelfällen zulässt?

Nun seid ihr dran: Werde ich empfindlicher oder gibt es immer mehr Menschen, die missionieren wollen?

14 thoughts on “Moderne Missionare

  1. Mmmmm, mir begegnen solche Menschen nicht mehr. Solche Diskussionen würde ich heute auch sofort unterbinden. Ich gebe allerdings zu, mein Freundeskreis ist relativ übersichtlich, wohl genau aus diesem Grund. Nach meiner langen Erkrankung vor ein paar Jahren stürzten sich auch einige „liebe“ Kolleginnen auf mich, genau mit diesem Ansinnen mich schützen zu wollen.

    Ich würde mir Gedanken über meine Ausstrahlung machen, wenn mir ständig Menschen sagen wollten, was für mich richtig ist. Strahle ich so viel Unselbstständigkeit, Unwissenheit und Schwäche aus, dass andere Menschen es als ihre Lebensaufgabe ansehen mir die Welt zu erklären?

    LG Elke

    1. Liebe Elke, schön, dass du dich mal wieder mit einem Kommentar meldest. Danke für deine offenen Worte. Und du bist der beste Beweis dafür, dass es auch anders geht. Du sagst nicht „Du MUSST dir Gedanken machen…“ sondern findest Formulierungen, die nicht sofort distanzlos wirken. Danke dir!

      1. Da fällt mir gerade noch ein.
        Zur Freiheit so zu leben, wie es mir gut tut, gehört auch die Freiheit meine Freizeit einzuteilen.

        Gerade wir Blogger/innen erleben es vermutlich häufig, dass Kommentare platziert werden, die nur einen Sinnen haben, nämlich Follower sammeln. Manchmal springen mich Themen an und dann lese und schreibe ich auch dazu, hier war das der Fall.

        Wahrnehmen tue ich viel mehr, als kommentieren. Schadet der Followerzahl, bewahrt mich vor Stress. Deshalb mag ich zum Beispiel Deinen Blog, er heischt nicht um „likes“ …woooohltuend!!!!!

    2. Ja, da ist was Wahres dran. Mir wurde über Jahrzehnte hinweg erzählt: „Du MUSST zunehmen, Du bist zu dünn!“ Bis ich irgendwann mal gefragt habe: „Wozu bin ich eigentlich zu dünn?“ Dann war Schluss. Außerdem kam dann auch schon die Magersucht-Modell-Mode und gegen die bin ich voll fett.

      1. „Du musst…..“ sind Worte, die mich sehr abschrecken. Ich gebe zu, ich hatte fachliche Hilfe, um aus bestimmten Kreisläufen ausbrechen zu können und dabei hat sich mein Wesen wohl so manifestiert, dass Vorschläge meist an mir abprallen.
        Zudem bin ich mit mehr als 60 Lebensjahren auf dem Buckel inzwischen durch so viele Lebensmodelle gewandert, dass ich weiß, jedes Menschen Lebensweg ist ein ganz eigener.

        Ich muss nichts mehr, ich möchte leben und das so gut wie möglich, mit so vielen schönen Gedanken wie möglich und alle die mich daran bestärken sind mir willkommen, der Rest wird ignoriert.

        Viele liebe Grüße
        Elke

  2. Eltern mit Kindern mussten ja wohl schon immer die ungebetenen Ratschläge anderer Leute ertragen.
    Aber stimmt. Die Missionare sind überall.
    Früher kamen höchstens mal die Zeugen Jehovas vorbei, jetzt sind die Missionare überall, vor Allem, was die Ernährung angeht.
    Früher einmal habe ich eingekauft, Freunde um den Grill versammelt und hatten Spaß.
    Mittlerweile mache ich nur noch Mitbringparties, damit jeder seiner eigenen Ernährungsreligion fröhnen kann. Anders geht es nicht mehr. Für mich als Omni ist das spannend, da ich mich durch die Reihen probieren kann, aber wenn bei einem Riesen-Mitbring-Büffet sich eine darüber beschwert, dass ja überhaupt nichts für sie zu Essen dabei ist, finde ich das schon seltsam. Ebenso, wie dass ich nicht den selben Löffel mehr für zwei verschiedene Nudelsalate nutzen darf: Einer mit etwas Wurst, der andere vegetarisch. Ich könnte ihn ja vorher ablecken. Vielleicht die Lösung?
    In einem Forum „Plastikfrei Leben“ wurde nach Alternativen zu Fleece gefragt. Ich in meiner jugendlichen Unschuld: Wolle oder Loden. Daraufhin sind gleich sämtliche Veganer der Gruppe über mich hergefallen.Dieses Forum war so von Missionaren verseucht, dass ein normaler Austausch von Informationen zum Thema überhaupt nicht mehr möglich war.
    Vor 35 Jahren bin ich aus der Kirche ausgetreten und es hat (außer meiner Mutter, die katholische Verwandschaft durfte das ja nicht wissen) wirklich nie jemanden interessiert. Und ich interessiere mich nicht für die Religion anderer Menschen. Plötzlich spielt Religionszugehörigkeit, wenn ja welche oder nicht und das christliche Abendland eine Rolle.
    Ich glaube, das Internet ermöglicht es noch den kleinsten Splittergrüppchen sich zu finden, für eine Mehrheit zu halten und ihre Glaubensbekenntnisse ohne Rücksicht auf eventuell vorliegende Tatsachen zu verbreiten. Dazu kommen so Missionare wie Richard David Precht und andere, die viral geteilt werden, eigentlich nur Fluff von sich geben, das aber so geschickt, dass jeder glaubt, was sie sagen. https://biboskleinefluchten.wordpress.com/2017/07/29/mal-was-zu-raten-die-aufloesung/

    1. Deine Worte tun mir gut. Bei „Wolle oder Loden“ musste ich herzlich lachen. Das ist mir ganz ähnlich passiert, allerdings in einer Krabbelgruppe.

  3. Hallo Ingrid, seit der kidsgo Zeit bin ich stille Mitleserin deines Blogs. Das was du beschrieben hast, habe ich auch erlebt und mittlerweile systematisch aus meinem Leben mit drei Kindern verbannt. Aus meiner Sicht ist das Problematische an ungefragten Ratschlägen, dass das Gegenüber vollständig von seiner Meinung überzeugt ist und in dem Augenblick seinen Gesprächspartner durch den Ratschlag degradiert und kritisiert. Das Schöne am Leben aber ist, dass man Dinge auf unterschiedlichste Arten erledigen und sein Leben in vielen Facetten leben kann. An dieser Stelle fordere ich dann die Toleranz des anderen ein oder lasse es sein, aber dann gibt es von meiner Seite sicherlich kein 2.Mal,wenn ich nur missioniert werde.

    1. „degradiert und kritisiert“ – du sagst es, genauso empfinde ich in solchen Situationen. Danke für deinen Kommentar, ich sehe, dass es anderen auch so geht und dass ich auf dem richtigen Weg bin, wenn ich nicht einfach nur freundlich lächelnd den Mund halte.

    2. Ein guter Freund von mir hatte die Standard-Antwort: Ja, Du machst es so und ich mach es anders. Da steckt viel Weisheit hinter.

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