Fast hatte ich schon wieder vergessen, dass die original Thüringer Rostbratwurst ganz oben auf meiner persönlichen „Liste der suchtgefährdenden Stoffe“ steht.
Doch als wir bei der Anreise nach Oberhof auf dem Kamm des Thüringer Waldes die erste Bratwurstbude passierten, war es wieder da: Das Verlangen nach einer richtig guten Rostbratwurst. Nicht, dass unsere örtliche Wurstfabrik schlechte Würste macht, aber hier kommen eben keine außergewöhnlich köstlichen Rohwürste wie die der Thüringer Metzger auf den Grill.
Als ich in Thüringen arbeitete, ließ ich keine Gelegenheit aus, mir irgendwo eine Thüringer Rostbratwurst zu kaufen.
Dabei war meine erste Bestellung ein Lacher für alle Umherstehenden: An einer Holzbude mit dem Schild „Original Thüringer Rostbratwurst“ bestellte ich eine solche, bezahlte und erhielt nichts weiter als eine Serviette und ein aufgeschnittenes Brötchen. Erwartungsvoll sah ich den Herrn an, der mir das Brötchen gegeben hatte, weil ich noch auf meine Wurst wartete. Hinter mir wurde „was will sie denn noch?“ und „Mensch, mach vorrrran!“ gemurrt. Er fragte: „Sonst noch etwas?“ und ich lächelte süßsauer, als ich „Ja, meine Wurst!“ erwiderte. Zusammen mit den Leuten hinter mir lachte er los und sagte „die gibt es hier nicht!“. Zunächst dachte ich an einen schlechten Scherz von Ex-DDR’lern zum Thema Mangelverwaltung und wartete weiter. Erst als er den Kunden hinter mir auch nur Servietten und Brötchen verkaufte und sie klaglos um die Hütte herum gingen, erkannte ich meinen Irrtum. Die Serviette und das Brötchen waren quasi mein Abholschein, um mir am Grill hinter der Hütte bei seinem Kollegen das bezahlte Würstchen frisch vom Grill in das Brötchen heben zu lassen!
Das war nicht meine einzige Fehleinschätzung bei den Thüringer Rostbratwürstchen: Ich hatte ja im Frühjahr meine Stelle angetreten und den ganzen Sommer über Würstchen frisch vom Grill gegessen. Da Wessis ja nur im Sommer grillen, ging ich davon aus, dass irgendwann im Herbst alle Bratwurstbuden in den Winterschlaf gehen. Im September aß ich jede Wurst mit dem Gefühl, es könnte die letzte in dieser Saison sein. Im Oktober aß ich jede Wurst mit dem Gefühl, es könnte die letzte in dieser Saison sein. Im November aß ich jede Wurst mit dem Gefühl, es könnte die letzte in dieser Saison sein – schaute mich um, sah mich in kniehohem Schnee stehen und erkannte, dass es diese Köstlichkeit das ganze Jahr über gibt. Hach, herrlich!
Nun also wieder die gute Thüringer Rostbratwurst. Am Freitag, am Samstag und am Sonntag. Denn schon mit dem ersten Bissen von meiner Wurst forderten alle Mädels „Mama, mehr!“. Nele und Aurelia pur, Cari mit viel Ketchup, denn ihr ist ja eigentlich vollkommen egal, was sie zu ihrem Ketchup isst. Diesmal also weder Fritten noch Nudeln, sondern Würstchen.
Ich hatte noch in Erinnerung, dass sie im Originalrezept auch Kümmel enthält. Leider habe ich in den vergangenen Jahren eine Kümmel-Unverträglichkeit entwickelt. Mir wird die Zunge taub, wenn ich zu viel Kümmel essen. Egal. Ich musste diese Wurst bestellen und essen! Und die beiden Wurstzipfel meiner verschnuppten ältesten Tochter, die keine Wurstenden mag. Von Nele und Cari bekam ich nichts ab. Nele aß doch tatsächlich eine ganze Wurst alleine und Cari teilte fair mit Bathida. Die Zunge wurde natürlich wieder taub. Aber der Geschmack war köstlich wie eh und je! Keinem meiner Mädels fiel es auf, dass ich nicht mehr sprach. Sie haben alle so viel zu erzählen, dass eine Mama, die eine halbe Stunde nichts sagt, vielleicht auch einfach nur nicht zu Wort gekommen sein könnte. Heilfroh war ich nur, dass ich in keine Polizeikontrolle kam. Sonst hätte ich anhand meiner Sprache ins Röhrchen pusten müssen.
Denen wird man bestimmt keine vegane Wurst als lecker verkaufen können.
Was lallen sie so? – Es war die Wurst und nicht der Wein.