Aurelia ist die Außenseiterin in ihrer Klasse. Schuld daran bin ich. Das Schlimme ist: ich kann es nicht ändern.

Die Situation ist folgendermaßen: ab 8:00 Uhr dürfen wir die Kinder in ihre Klassenzimmer bringen, bis 8:30 Uhr muss Aurelia da sein, bis 8:40 die Zwillinge. Nun ist es aber leider so, dass meine Mäuse morgens nicht besonders schnell in die Gänge kommen. Aurelia und Cari sind noch müde, meine Frühaufsteherin Nele ist schon wieder müde. Also kommen wir nie Punkt 8 Uhr an der Schule an. Aurelia bringt gerne ihre kleinen Schwestern noch in die Gruppe und wir kommen 2-5 Minuten vor halb neun in ihrer Klasse an. Zu spät waren wir in all den Jahren noch nie.

Nun hat sich aber in Aurelias Klasse in den letzten Monaten etwas sehr merkwürdiges eingespielt: Die Mütter geben ihre Kinder nicht mehr einfach vor der Klasse ab und gehen zurück zum Auto, sondern bleiben in der Klasse. Sie spielen mit ihren Kindern, quatschen mit anderen Müttern, herzen jüngere Geschwister. Alles klar, ist doch schön, oder?

Naja, ich bin zwiegespalten.

Zum einen sehe ich, dass einige der Kinder (5-6 Jahre alt) Tränen in den Augen haben oder „Mama, geh nicht!“ sagen, wenn die Lehrerin alle Mütter um halb neun vor die Tür setzt. Solchen Abschiedsschmerz zeigten exakt diese Kinder im vergangenen Jahr nicht, als wir sie noch alle an der Klassenzimmertür abgaben und es gibt ihn auch in keinem anderen Jahrgang. Selbst bei den Zweijährigen nicht, wo wir unsere Kinder beim Abschied noch einmal herzlich umarmen und küssen, dann noch einmal winken und ein gut gelauntes Kind zurück lassen, das oft schon im Spiel versunken ist, bevor wir außer Sicht sind.

Zum zweiten sehe ich meine Tochter und zwei-drei Klassenkameraden, die selten oder gar nicht von ihren Müttern bis halb neun betüddelt werden. Das ist keine böse Absicht oder Lieblosigkeit. Doch manch eine Mutter muss mit ihrer Zeit haushalten und sich nach dem Verlassen der Schule sputen, um pünktlich am Arbeitsplatz zu sein. Diese Kinder sind zum Teil traurig, weil ihre Mütter vor Unterrichtsbeginn keine Zeit mit ihnen verbringen, oft aber einfach nur irritiert, weil die anderen Kinder mit ihren Müttern statt miteinander spielen.

Gestern morgen haben Aurelia und ich auf dem Flur vor dem Klassenzimmer lange darüber gesprochen, denn wir waren etwas früher dran als sonst und kamen nicht zur Tür herein, weil dort eine Traube Mütter stand und quatschte.

Ich bot ihr an, zukünftig zuerst sie in die Klasse zu bringen und bis halb neun bei ihr zu bleiben, dann erst die Kleinen in ihre Gruppe zu bringen. – „Nein, Mama, es macht mir so viel Spaß, die Kleinen zu den Little Dragons zu begleiten.“

Ich bot ihr an, früher zuhause zu starten, um unsere Routine um zehn Minuten zu verschieben. – „MAMA! Nein, bloß nicht! Dann muss ich ja noch früher aufstehen!“

Ich bot ihr an, zumindest die letzten 2-5 Minuten mit in die Klasse zu kommen. – „Och nö, das ist doch albern, ich bin doch kein Baby mehr und für die paar Minuten lohnt es sich doch nicht!“

Aha, andere Lösungen fallen mir jetzt aber spontan nicht ein. Das sagte ich ihr auch.  Sie umarmte und küsste mich, schob mich dann in den Flur und sagte: „Raus mit dir, Bathida wartet im Auto auf ihre Hunderunde!“

Meine kluge, starke, lebenspraktische Tochter! Ich muss Tränchen herunterschlucken, während ich das schreibe. Sie fühlt, dass Mütter nicht ins Klassenzimmer gehören, wenn Kinder noch ein paar Minuten bis zum Unterrichtsbeginn haben. So sehe ich es auch.

Sollte sie aber den Wunsch verspüren, von mir in den letzten Minuten vor der ersten Stunde in die Klasse begleitet zu werden, mache ich das gerne. Nicht, weil ich es für richtig halte, an einem Erstklässlerpult neben meiner Tochter zu sitzen und mit ihr Spiele zu spielen, die sie nach der Vorstellung ihrer Lehrerin mit ihren Mitschülern spielen sollte. Sondern weil ich es für wichtig halte, ihr zu zeigen, dass ich sie liebe und mit all ihren Bedürfnissen und Wünschen ernst nehme. Ob dann die Kleinen zu spät in ihre Gruppe kommen oder Bathida ihre Hunderunde ohne die anderen Hunde machen muss, mit denen wir sonst immer laufen, ist mir dann egal. Aber wer weiß, ob es überhaupt so weit kommt.

Heute jedenfalls hat sie erst einmal ihre Lehrerin umarmt und sich daran gefreut, diese für sich zu haben, während die anderen Kinder noch bei ihren Müttern sind.

7 thoughts on “Glucken

  1. Die Helikopter-Mamas tun ihren Kindern ganz bestimmt keinen Gefallen damit, dass sie sie nicht selbständig werden lassen. Schade, dass sich die Lehrerin nicht mehr durchsetzt.

  2. Du siehst das absolut richtig und deine Tochter auch. Ich bin Lehrerin und fand es immer schon schlimm, wenn Eltern sich nicht trennen konnten und an der Klassentür klebten und es dadurch ihrem Kind vor allem schwerer machten. Denn das Kind spürt auf der energetischen Ebene den Schmerz der Eltern und fängt dadurch an zu weinen. Die Eltern meinen dann aber, das Kind wäre traurig. Eine kurzer Abschied am Schuleingang und einige Wochen später schon am Auto sind das Gesündeste.

    1. Nachtrag: „Die Freiheit auf dem Schulweg“ – genau das ist es! Wann sind unsere Kinder heute noch unbeobachtet, unkontrolliert – wirklich frei?? Wir wollen sie zur Selbstständigkeit erziehen und nehmen ihnen alles ab, leider meist auch die Verantwortung und alle Freiheiten.

  3. Das Thema hatte ich Montag mit einem Bekannten….ich weiss bei Dir geht es nicht anders als das Du die Mäuse zur Schule bringst und ich denke auch, dass es bei vielen von Aurelias Mitschülern so ist, aber es ist an Schulen und nicht nur Grundschulen ein echtes Problem: Die Helikoptereltern (dazu zähle ich Dic, wie gesagt nicht).
    Sie blockieren die Strassen und es gibt schon Schulen in Braunschweig wo morgens Polizei steht damit die Helikoptereltern nicht die Strassen blockieren. In dem Fall den ich mit dem Bekannten besprochen hatte, ist die Strassenbahnhaltestelle gerade mal 300m von der Schule weg und ca 1/3 der Schüler wohnen in dem direkten Umfeld der Schule
    Sicher ist es schön wenn die Kleinen noch ein wenig mit Mamma oder Papa spielen können, oder ihnen noch etwas zeigen können aber ich denke und das hat sich bei den Kindern meiner Schwester und bei meinen vielen Freunden gezeigt, es hilft den Kindern wenn sie lernen den Schulweg, nach einer Trainingszeit, selbständig bewältigen. (Den Satz „das mussten wir auch“ verkneife ich mir bewust)

    1. Mir wäre es sogar peinlich gewesen, wenn ich auch nur zur Schule – geschweige denn in die Klasse – gebracht worden wäre. Ich habe die Freiheit auf dem Schulweg und auf dem Schulhof immer sehr geliebt. Vielleicht irritiert es mich deshalb so sehr, denn wenn wir näher an der Schule wohnen würden, hatte ich sie ab dem 6. Geburtstag allein laufen lassen.

  4. Ich habe drei Kinder. Mein Ältester (13) war in einer bilingualen Grundschule ca. 5 km von uns entfernt und musste in einem Grüppchen mit 5-6 anderen immer den öffentlichen Bus nehmen. Viele konnten das gar nicht nachvollziehen, ist aber bei unserer Stadtgrösse und Unistadt gut machbar. Er ist heute sehr selbständig und findet das als Ältester gar nicht schlecht. Mein 2. (10 Jahre) war in einer normalen Grundschule mit ca. 2 km Fußweg und ich habe ihn auch immer von Anfang an zu Fuß laufen lassen. Mit beiden bin ich in der Anfangszeit immer sehr lange zusammen Bus gefahren bzw. bin mitgelaufen. Eine Verabschiedung fand dann immer an der Schuleingangstüre statt. Leider kenne ich viele Helikoptereltern, die bis in das Klassenzimmer begleiten. Dies wurde sogar ausdrücklich an unserer Grundschule verboten. D.h. Verabschiedung für alle am Schultor und das ist auch gut so.
    Insgesamt macht die Totalüberwachung die Kinder so enorm unselbständig, weil sie einfach nicht auf dem Schulweg trödeln dürfen(und damit 1h oder länger für einen 10 Minuten Weg benötigen), sich unabgesprochenerweise beim Freund sich zum Spielen auf dem Nachhauseweg einladen oder einen Kurztrip zum Kiosk machen, um sich die neuesten Fussballaufkleber vom Taschengeld zu besorgen.
    P.S.: Meine Kleine (3J.) ist z.Zt. im Kindergarten – mal sehen, wie es dann bei ihr so ist!!!

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