Seit unserer Heimkehr habe ich mich nicht mehr gemeldet. Nun häufen sich die Fragen, ob es in Wales soooo schlimm war und ob ich es vielleicht gar nicht ins Ziel geschafft habe. Bitte nicht böse sein, ich ertrinke in Arbeit.

Zu eurer Frage: Ich habe es – und bin – geschafft. Vom Bristol Channel bei Chepstow bis zur Irischen See in Prestatyn, den gesamten Offa’s Dyke Path. Netto 284 km, plus einige zusätzliche Strecken für Diversions, Streckenalternativen und schlichtes Verirren.

15 x bin ich auf dem Offa’s Dyke Path nach Norden gewandert, mit dem Fahrrad wieder zum Startpunkt geradelt und mit dem Auto zum Wohnwagen gefahren. Also irgendwie eine besondere Art von Triathlon.

Am letzten Tag war es bewölkt. Das ist perfektes Wanderwetter, war aber bei dieser Tour rar. An einem Tag hatte ich kurz etwas Sprühregen, den mag ich auch gerne, weil er mich runterkühlt. Ein Gewittertag war eine Akkordbremse. Die Gewitter hielten mich bei ungeschützten Streckenabschnitten auf und die ganztägig triefnassen Füße quollen auf. Nicht einmal die guten Wrightsocks konnten verhindern, dass ich nun mit drei großen Compeeds durch die Landschaft eiere. Meist war es sonnig und – für meinen Geschmack – viel zu heiß zum wandern. Aber ideal für die Kinder zum Spielen  auf dem Campingplatz.

Wir blicken auf eine intensive Zeit zurück, in der wir viel erlebt haben, die aber alles andere als ein typischer Erholungsurlaub war. Am besten lässt sich diese Reise mit den Worten Disziplin, Mut und Anerkennung zusammenfassen.

Disziplin

Das tägliche Wanderprogramm, die erforderlichen Standortwechsel und die von der Schule mitgegebenen Aufgaben verlangten uns einiges an Disziplin ab.

Allen!

Denn wenn ich vor oder nach meiner Wanderung mit Aurelia las oder sie Aufgaben im Deutscharbeitsheft löste, mussten die Zwillinge sich leiser beschäftigen als sonst.

Fuhren wir mit dem Gespann auf Nebenstraßen, hatte Aurelia auf dem Beifahrersitz den Blickwinkel eines britischen Autofahrers. Sie sah ja jedes entgegenkommende Fahrzeug viel früher als ich und warnte mich sofort. Ich musste mich darauf verlassen, dass sie mir beim Auffahren auf eine Autobahn zuverlässig sagte, ob die linke Fahrspur frei ist.

Nach dem Benutzen einer Toilette im Wohnwagen müssen auch kleine Kloanfängerinnen immer (!) daran denken, abzuziehen und den Deckel zu schließen. Sie korrigierten sich schon ab dem zweiten Tag selbst, wenn sie es vergessen hatten und ihnen eine Erinnerung in das kleine Näschen stieg.

Ich konnte mir bei der Wanderung keine Schwächen erlauben. Der Zeitplan war eng, der Weg lang und durch die Radelei zeitaufwändiger als bei einer bloßen Wanderung Chepstow – Prestatyn. Herumtrödeln gab es nicht. Fand ich einen für das Manuskript brauchbaren Geocache nicht innerhalb der ersten Minute, musste ich eben ohne den entsprechenden Punkt für meine Cacherstatistik weiterwandern. Auch das spannendste Gespräch mit Einheimischen musste der Vernunft weichen, um zu einer annehmbaren Zeit wieder am Campingplatz zu sein.

Jammern war auch keine Option. Meine Mutter war durch ihr schmerzendes Bein viel mehr beeinträchtigt als ich, wie hätte ich mich wagen können, ihr etwas von wehen Füßen vom langen Wandern vorzustöhnen?

Mut

Seid ihr schon einmal mit einem insgesamt 13 Meter langen Gespann gefahren? Allein, ohne Ersatzfahrer, auf eine Fähre, im Linksverkehr, auf Single Track Roads with Passing Places? Ja: Dann wisst ihr, welchen Mut ich für diese Tour aufbringen musste (oder seid absolut coole Knochen!) Nein: Sicherlich ahnt ihr den Grund dafür. Aber man wächst mit seinen Aufgaben und ich konnte am Montag sogar einen unfallfreien Wohnwagen zurückgeben.

Mut kostete es auch meine Mutter, wenn sie auf den Campingplätzen mit den Kindern Fish’n Chips oder Eis essen ging. Sie musste sich auf Kommunikation mit Händen & Füßen verlassen, auf geduldige Briten und eine zwar perfekt englischsprachige, aber in solchen Situationen fürchterlich schüchterne Enkelin. Das ist nämlich ein Phänomen, was wir seit etwa zwei Monaten beobachten. Aurelia ging ja früher sehr offen auf Fremde zu und sprach mit jedem. Nun aber ist sie oft sehr scheu, traut sich nicht zu sprechen – weder in Deutsch noch in Englisch. Selbst wenn sie bei einer Kinderstadtführung nur nach dem Namen gefragt wird, kann es passieren, dass sie sich hinter mir versteckt. Sie musste also auch großen Mut aufbringen, um für die Oma die Bestellung zu übersetzen, Fragen zum Alter der Schwester und zur Rasse des Hundes zu beantworten und um die Rechnung zu bitten.

Bei einem Ausflug zum Pistyll Rhaedr Wasserfall lief Cari mit Aurelia ganz mutig über die nassen Felsen bis zum Wasserfall. Noch viel mutiger fand ich es aber von Nele, mir zu sagen: „Mama, der Wasserfaller ist schön, aber ich bleibe hier. Da wo Cari und Aurelia stehen habe ich Angst.“ Der Mut, eine Angst einzugestehen, ist ganz wichtig. Besonders wenn alle anderen diese Angst nicht haben (oder zeigen?). Denn erst vorne am Wasserfall bekam es Aurelia mit der Angst zu tun und sie traute sich weder vor noch zurück. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich aus ihrer Angststarre löste und sich von mir an der Hand auf den Weg führen ließ.

Bathida hatte vor unserer Reise Angst vor Tieren, die größer sind als sie. Das ergab in der Nähe von Schafweiden lustige Szenen: Sie näherte sich den Schafen interessiert und wollte sie beschnuppern. Das ging aber nur gut, wenn es eine der kleinen Rassen war. Viele ausgewachsene Schafe sind aber größer als sie, merkte sie das bei der Annäherung, drehte sie sich abrupt um und zog schneller in die andere Richtung, als der Mensch am anderen Ende der Leine reagieren konnte. Noch schlimmer bei Kühen, Eseln und Pferden: Sah sie ein solch großes Tier, wollte sie bei mir auf den Arm. Drei Wochen später waren ihr Schafe jeder Größe, Kühe und sogar Pferde vollkommen egal. Sie konnte sie vollkommen angstfrei passieren.

Der Offa’s Dyke verlief in Prestatyn dort, wo heute die Bastion Road liegt und führt an deren Ende der Sage nach über die heutige Promenade hinweg bis tief in die Irische See hinein. Jeder Wanderer auf dem Offa’s Dyke Path soll daher am Ende seiner Wanderung ins Meer laufen, und zwar so weit, wie er sich traut (= „as far, as you dare“). Das habe ich schon bei den drei vorangegangenen Wanderungen gemacht, aber noch nie war ich so müde, das Wasser so kalt und die Beine so blau gefroren wie bei diesem Mal. Das war eine echte Mutprobe, die nicht durch die Wiederholung leichter wird. Ich wusste ja schon, wie kalt das Wasser Ende Mai noch ist, deshalb erforderte es besonderen Mut.

Anerkennung

Der Umgang während dieser Reise war geprägt von gegenseitiger Anerkennung. Im Alltag geht dies leider manchmal etwas unter, doch in Wales fiel es mir anders auf. Ich ziehe den Hut vor meiner Mutter, die trotz ihrer Beschwerden und ihres Alters tagsüber nach den Kindern sah. Das sagte ich ihr auch einige Male. Andersherum hörte ich mehrfach ein Lob für meine Fahrkünste und meinen Durchhaltewillen beim Wandern von ihr.

Sie erzählte viel von meinem Vater, dessen Willenskraft sie zwar manchmal als Sturheit empfunden hatte, insgesamt aber oft bewundert hatte und nun in mir und den Kindern wiederentdeckt.

Das übertrug sich auch auf die Kinder. Sie lobten sich gegenseitig und sogar uns Erwachsene. Einige dieser Sätze habe ich mir notiert, weil ich sie so süß fand:

  • (Aurelia) Toll, Cari, du hast es ganz allein auf das Klettergerüst geschafft!
  • (Nele) Ommma, du hast super gespült!
  • (Cari) Allein angeschnallt! Super Nele! (naja, aber auf dem Fahrersitz, das beschleunigte die Abfahrt nicht)
  • (Aurelia) Danke, liebe Mama, dass du an Eis gedacht hast, obwohl du den Einkaufszettel vergessen hast (dafür hatte ich Kaffee vergessen, aber was ist schon Kaffee gegen Eis?!)
  • (Cari) Omma, gut gestuft! (= aus dem Wohnwagen ausgestiegen)
  • (Nele) Mama hat dir beim Sandwich gar nicht geholfen, prima, Cari! (ICH hätte ihr auch kein Brot mit Erdnussbutter und Ketchup gemacht!!!)
  • (Cari) Bathida, du hast super gewartet! (vor der Dusche)
  • (Aurelia) Ihr habt euch ja ganz allein angezogen. Klasse, NeleCari!
  • (Nele) Prima Schuhe angezogen, Nele! (wenn mich schon sonst keiner lobt…)
  • (Cari) Mama, du riechst sooooo lecker nach Zahn! (ich hatte mir beim Aufweckküsschen noch nicht die Zähne geputzt)

 

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