Heute ist Totensonntag. In der evangelischen Kirche wird er Ewigkeitssonntag genannt. Ein Stiller Feiertag, an dem sogar die Weihnachtsmärkte nicht öffnen dürfen. Melaten ist das Ziel meiner Radtour im Regen.

Am Gedenktag für die Toten bin ich traurig. Ich denke an viele Menschen, die mir vorausgegangen sind. An meinen Vater und meine Großeltern, an die ich keine Erinnerung mehr habe. An gute Freunde, die ich vermisse, wenn ein bestimmtes Lied im Radio läuft. An Sterbende, die ich als Hospizhelferin begleiten durfte. An DRK-Kollegen, deren guten Rat ich noch körperlich spüre, wann immer ich einen Verband wickle, einen Leitungsroller abwickle oder ein Martinshorn höre. Ich denke sogar an meine bereits gestorbenen Hunde und ein krankes Wildkaninchen, das ich auf dem Weg zur Uni auflas und lieber zum Tierarzt brachte, als pünktlich zur Vorlesung zu kommen.

Dabei bin ich froh, heute allein zu sein. Ich kann diese Trauer kommen und gehen lassen. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Mir macht eine Entwicklung einige Sorgen: Sobald es mir oder meinem Kind schlecht geht, kommt von irgendwo jemand angesprungen und erteilt die Anweisung: „Du muss es positiv sehen!“ oder „Bestimmt hat es auch sein Gutes!“. Überall ist nur noch von Positivem Denken und Positivität die Rede. Alles muss glücklich machen. Unfassbar viele gedruckte Ratgeber, Blogs und Homepages wollen mir das für mich aufschwatzen.

Ich nenne es mal ganz ins Unreine „Negative Positivität„, denn sie zieht uns noch tiefer runter und macht uns manchmal sogar krank. Das klingt nach einem Widerspruch, aber folgendes geht mir dabei durch den Kopf:

Optimisten

Schon in meiner Schulzeit gab es Optimisten. Oft wurden sie gegenüber Pessimisten und Realisten abgegrenzt. Ein Optimist hat eine positive Grundhaltung, die sich in die Zukunft richtet: Eine bestimmte Situation oder eine Entwicklung wird gut ausgehen. Das entspricht dem rheinischen „Et hätt noch immer jot jejange“.

Wir haben im Psychologieunterricht gelernt, dass es ein unveränderlicher Teil der Persönlichkeit ist, ob man eher pessimistisch oder optimistisch durch das Leben geht.

Alles klar! Also gibt es einfach Leute, die in einer Situation mit ungewissem Ausgang optimistisch oder pessimistisch reagieren. Beides ist normal und okay. Sitzen beide das erste Mal in einem Kanu und paddeln die Wupper hinab, wird der Optimist jede Stromschnelle mit einem fröhlichen „Juchu! Et hätt noch immer jot jejange!“ begrüßen, während der Pessimist mit einem „Ogottogottogott! Wir werden darin kentern!“ auf sie zu paddelt.

Beides nicht schlimm. Der fröhliche Optimismus kann zu Leichtfertigkeit führen, während der Pessimist die Risiken sieht und mit aller Macht gegensteuert.

Positives Denken

Wir sprachen in der Schule auch über das positive Denken. Und zwar – das finde ich interessant – im Zusammenhang mit self fulfilling prophecies (sich selbst erfüllenden Prophezeiungen) und war eher im Bereich des Glaubens und der Esoterik angesiedelt. Wenn ich mir nur lange genug einrede, dass etwas passiert, wird es passieren.

Kann klappen, muss aber nicht.

Dieses positive Denken begegnete mir immer wieder. Mit den richtigen Visualisierungen und Affirmationen soll sich mein Denken zum Positiven verändern.

Aber ich bin nicht dafür gemacht, mich selbst zu veräppeln. Hier drei Beispiele:

  1. Im Abiturjahr traf ich nach einer langen Verletzungspause beim Basketballtraining den Korb nicht mehr. Der Sportlehrer riet mir, ich solle mir vorstellen und visualisieren, dass mein Ball in den Korb fällt. Passierte aber nicht! Ich konnte den Ball hundertmal im Korb sehen, er prallte daneben ab. Bei mir half nur üben, üben, üben bis ich wieder traf.
  2. In der Mutter-Kind-Kur riet mir die Psychologin zu positivem Denken, wenn ich mit meinem Aussehen unzufrieden bin. Wenn ich mich morgens im Bad sehe und mit meinem Spiegelbild unglücklich bin, kann mich mir 999.999 x sagen „Ich bin schön!“ – „Schönheit liegt im Auge des Betrachters“ – „Wahre Schönheit kommt von innen“. Aber ich glaube es mir nicht. Zudem denke ich dann den ganzen Tag immer wieder an das dämliche Thema, wenn ich mir mein „Ich bin schön“-Mantra aufsage und bin dann auch noch sauer mit mir, weil ich noch zu blöd für positives Denken bin.
  3. Eine Bekannte, die das positive Denken geradezu lebt, ist der festen Überzeugung, sie müsse nur an einen Parkplatz denken, um einen zu bekommen. Selbst zur Rushhour in der Innenstadt. Ich hingegen hasse die innerstädtische Parkplatzsuche und meide sie, wo es nur geht. Ist es unvermeidbar, plane ich viel Zeit für die Suche ein und bin angenehm überrascht, wenn es schneller geht. Meine negative Energie scheint stärker zu sein als ihr positives Denken. Denn immer, wenn wir gemeinsam mit dem Auto unterwegs sind, brauchen wir ewig, bis das Auto endlich steht. Und jedes Mal betont sie, dass ihr das noch nie passiert sei…

Auf mich wirkt positives Denken verlogen, denn es funktioniert nur bei ohnehin schon robusten Persönlichkeiten, den es nichts ausmacht, aus ihren Fehlern zu lernen. Unsicher Menschen gehen daran kaputt, denn sie wissen ja: wenn ich scheitere, macht es alles noch schlimmer. Wenn ich keinen Erfolg habe, dann bin ich auch noch selber schuld, weil ich es mir nicht gut genug suggeriert und visualisiert habe und ganz offensichtlich nicht richtig probiert habe. Weder der Trainer noch die Rahmenbedingungen werden dabei betrachtet, wenn ich scheitere, lag es allein an mir.

In der Erziehung kann das ganz fatale Folgen haben: Meine Zwillinge standen im Sommer 2021 traurig im Pool, weil sie alles aus dem Schwimmkurs (Februar 2020) verlernt hatten. Beide trauten sich anfangs nicht einmal, das Kinn unter Wasser zu tauchen. Von Mund – Nase – Augen – ganzem Kopf ganz zu schweigen!

Würde ich ihnen nun Mantras wie „Ich kann das!“ – „Das habe ich vorletzten Winter gekonnt, das geht immer noch!“ – „Das ist ganz einfach, ich schaffe das!“ vorbeten, würden beide mich nur irritiert ansehen. Cari würde sagen: „Nein, ich kann das nicht! Aber ich übe das so lange, bis ich es kann!“ Nele würde sich mit einem „Nee, kann ich nicht!“ bockig umdrehen, wütend zu unserem Liegeplatz stampfen, sich anziehen und am Auto warten, bis wir nach Hause fahren.

Mit positiven Denken würde ich sie dazu anhalten, Negatives (16 Monate ohne Schwimmunterricht) zu verleugnen und negative Emotionen (Angst vor dem Untertauchen) zu verdrängen, was besonders bei labilen Persönlichkeitsstrukturen zu ernsthaften Schwierigkeiten führen kann.

Positivität

Das neue Heilsversprechen ist Positivität. Immer beim Thema Achtsamkeit kommt es bald schon daher. Auch wenn ich Achtsamkeit so verstehe, dass ich alles wertfrei betrachten soll. Doch sobald irgendwo mehr als vier Sätze über Achtsamkeit geschrieben wird, werde ich als Leserin dazu angehalten, meine Aufmerksamkeit auf etwas Positives zu richten.

Das kann fatale Folgen haben: Ich verfluche den Positivismus, mit dem wir uns Anfang des Jahres in das Abenteuer „Welpen“ gestürzt haben. Es war ja soooo süß! Es lief ja soooooo putzig und wackelte mit dem Hintern wie eine Diva! Es erzählte mit uns und sang für uns! Es holte meine Töchter aus dem Homeschooling-Lockdown-Frust. Bathida wurde aktiver und fitter durch die kleine Knutschkugel. Ach hätten wir uns doch nicht so sehr an das Positive gehalten! Ich hätte viel früher erkannt, dass die kleine Blueberry unrund läuft. Mir wäre früher klar geworden, dass sie nicht kommuniziert, sondern vor Schmerzen jammert. Eine OP wäre früher nicht möglich gewesen, aber wir hätten früher mit der Schmerztherapie beginnen können.

Sogar richtig giftig wird Positivität, wenn sie uns keinen Raum lässt, uns schlecht zu fühlen. Wenn wir nach außen so tun müssen, als ginge es uns blendend. Mir wurde so richtig bewusst, dass ich – ohne es zu wollen – an dieser krankmachenden Positivität leide, als ich letzte Woche auf ein Zitat von Robin Williams stieß:

„I think, the saddest people always try their hardest to make people happy because they know what it’s like to feel absolutely worthless and they don’t want anyone else to feel likek that.“ (Ich denke, die traurigsten Menschen geben sich immer die größte Mühe, Menschen glücklich zu machen. Weil sie wissen, wie es ist, sich absolut wertlos zu fühlen. Und weil sie nicht möchten, dass sich irgendjemand so fühlt.)

Robin Williams

Gefahr erkannt, Gefahr gebannt? Oh nein, so leicht ist es nicht. Dazu mache ich das schon zu lange und es ist in vielen Situationen in Fleisch und Blut übergegangen. Mir wurde schon als Dreijährige beim Tod meines Vaters von wohlmeinenden Kindergärtnerinnen, Nachbarinnen und Verwandten deutlich gemacht, dass ich nicht traurig sein darf. Denn meine Aufgabe war es ja, meine Mutter in dieser schweren Zeit aufzumuntern! Als Vierjährige war ich 7 Monate von meiner Mutter getrennt und durfte nicht zeigen, dass sie mir fehlte. Bei zwei Kinderkuren als Acht- bzw. Elfjährige wurden Heimweh und Tränen unnachgiebig bestraft.

Ich habe mir also schon in meiner Kindheit angewöhnt, auch dann fröhlich zu wirken, wenn ich traurig, ängstlich oder zornig bin. Erscheint mir Humor unangemessen, schweige ich ganz. Schriftlich fällt es mir leichter als im Gespräch, deshalb wussten meine Brieffreundinnen in Koblenz, Wales und Italien immer mehr über mich, als alle Menschen, mit denen ich den lieben langen Tag verbrachte. Heute habe ich keine Brieffreunde mehr. Nur ganz wenige Menschen kennen deshalb meine wahren Gefühle. Zum Glück gehören meine Töchter dazu. Sie haben ein gutes Gespür für traurige, wütende oder verzweifelte Momente und können mich ohne jedes Wort trösten. Ja: trösten! Nicht aufmuntern und dieses negative Gefühl in ein positives verwandeln. Wir akzeptieren das Nichtvorhandensein einer positiven Lage – einer positiven Laune – eines positiven Gefühls. Denn so ist das Leben eben.

Glücklichsein

Und wisst ihr was? Ich bin glücklich! Ja, das ist für mich kein Widerspruch. Auch wenn ich einen traurigen Tag habe. Auch wenn ich vor Mitleid mit unserem leidenden Hund vergehe. Auch wenn meine Tochter weinend aus der Schule kommt. Auch wenn nichts gegen die Rückenschmerzen hilft. Und das alles in Zeiten, in denen ein Virus mein Leben vollkommen umkrempelt.

Ich bin glücklich darüber, dass ich endlich verstanden habe, dass Schmerzen, Trauer, Wut, Mitleid, Trennungen, Traurigkeit, Missgeschicke, Fehlentscheidungen, Schicksalsschläge, Depression, Zufälle und meine Gene mich genau zu dem gemacht haben, was ich jetzt bin. Und das machen sie jeden Tag neu. Egal, ob ich ihnen nur das Positive abzugewinnen versuche oder auch das Negative sehe.

11 thoughts on “Traurigkeit – Optimismus – Positives Denken – Positivität – Glücklichsein

  1. Ich versuche auch die Dinge grundsätzlich positiv zu sehen, mir hilft das. Aber das ist mein Weg. Aber manchmal hilft auch das nicht. Erinnerst du dich noch an unseren Wunsch ans Universum auf der Via Francigena, als ich um ein schattiges Plätzchen mit Gras gebeten habe und ein sandiges Fleckchen unter einer Krüppelkiefer rauskam.

    1. Ja, ich erinnere mich. Nicht gerade eine gute Referenz für Wünsche an das Universum. Nicht zu vergessen dein anschließender Einsatz als Friseurin, weil meine Haare vollkommen harzverklebt waren! Dein erster Versuch mit diesem Wunsch ging ja vollkommen schief, dalagst du im Straßengraben und ich hatte Angst, dass jemand dir die Beine abfährt!

  2. Bestellungen an das Universum funktionieren ganz gut, auch wenn man nicht daran glaubt, wenn man nicht zu konkret wird.
    Universum, ich hätte gern eine kleine Überraschung, innerhalb der nächsten drei Tage, klappt fast immer. Weil es die eigene Aufmerksamkeit verändert.
    Achtsamkeit kenne ich tatsächlich anders. Nicht zwanghaft Richtung positiv, sondern eher neutral wahrnehmen was ist. (nicht was war, nicht was wird, nicht was sein sollte, nicht was nicht ist, nicht abschweifen…) Nur was jetzt ist. Kommt aus dem Zen.
    Was sehe ich, was höre ich, was rieche ich, was schmecke ich, was fühle ich? Im Aikido: Wo entsteht Druck? In welche Richtung geht es nicht? In welche Richtung geht es stattdessen? Ist ein Muskel angespannt? Was passiert, wenn ich den Muskel entspanne?

    1. Ja, genau so wurde mir Achtsamkeit auch ursprünglich erklärt. Einfach neutral wahrnehmen, vollkommen wertfrei. Umso erstaunter bin ich darüber, dass jetzt auch Achtsamkeitsleute nur das Positive sehen und wahrnehmen wollen.

      Gut, wenn du es so wabbelig formulierst, funktioniert es. Irgendetwas Gutes oder eine Überraschung hat jeder Tag für mich, das brauche ich gar nicht einmal extern beim Universum für einen der nächsten drei Tage bestellen. Aber darum geht es mir ja gar nicht. Ich nehme ja Gutes und Positives wahr, möchte mir aber nicht das Recht nehmen lassen, auch Schlechtes und Negatives zu sehen und zu empfinden.

  3. Ich verstehe, was in dir vorgeht. Manches ist einfach nicht positiv. Es lässt sich auch nicht schönzureden. Danke für deine Gedanken, sie helfen mir.

  4. Unser Thema im Sommer! Ich war irritiert, dass du den Kindern das Wort „Scheiße“ durchgehen lässt. .. Du hast sie sogar gegen meinen tadelnden Blick verteidigt und bestätigt: „Ja mein Schatz, du darfst Scheiß Corona sagen. Dieses Virus ist wirklich Kacke!“ Du hast ja so Recht und hast dein Kind noch gleich auf ein Synonym gestoßen, dass es (noch) nicht im aktiven Wortschatz hatte.

  5. Danke für deinen tiefsinnigen Beitrag.
    Ich fühl mich auch oft nicht gut, kann das aber nicht so in Worte fassen wie Du.
    Ich hab mich da sehr wiedergefunden.
    Liebe Grüße Susanne

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