„Kurt Köhler ist tot.“
Ein kurzer Satz, der mein Herz schier zerspringen lässt.
Gestern Abend erfuhr ich um fünf Ecken, dass du gestorben bist. Heute Abend erzählte dein Freund Jürgen, dass du schon eine ganze Woche nicht mehr lebst und dich von keinem verabschieden konntest, obwohl du bis zuletzt wach und klar warst.
Wie gerne hätte ich Abschied von dir genommen. Im Krankenhaus, im Hospiz oder am Grab. Aber es durfte nicht sein.
Ich hätte dir so viel sagen wollen, vor allem hätte ich dich umarmt und dir von ganzem Herzen gedankt.
Im Leben meiner Mutter gab es zwei Männer: meinen Vater und dich. Nach Papas Tod war sie traurig, traurig, traurig. Erst als sie dich in diesem kleinen Naturfreundehaus bei Pforzheim kennen lernte, erschien ihr das Leben wieder lebenswert. Und es hatte ganz ungewöhnlich begonnen: Die Naturfreunde Kendenich waren auf Sommerfahrt in eurem Haus. Ein vierjähriges Mädchen saß spielend auf einer dunklen Treppe und brachte dich fast zu Fall, als du die Treppe hinauf stürmtest. Du brachtest die kleine Ingrid zu ihrer Mutter und ihr kamt nett ins Gespräch. Wenige Monate später klingelte es an unserer Haustür und davor sah ich dich stehen, mit einem Koffer und einem Rucksack.
Wie selbstverständlich zogst du bei uns ein. „Papa“ konnte ich dich nicht nennen, du warst ja nicht mein Papa. „Kurt“ fühlte sich zu distanziert an. Also nannte ich dich „Onkel Kurt“.
Wann immer in den folgenden Jahren in meinem Leben ein Vater gefragt war, du warst zur Stelle. Ich danke dir für jede einzelne Minute.
Du hast mich bei meiner Tante besucht, als meine Mutter sieben lange Monate in TBC-Kur war. Du hast mir freitags vom Kiosk ein Micky-Maus-Heft und eine Stange Nougat in einem blauen Papierchen mitgebracht. Du hast mich „Eule“ genannt und wurdest nicht müde, mir zu erklären, dass du dich damit nicht über meine Brille lustig machtest, sondern meine Klugheit meintest.
Du bist mit mir gerodelt, bis meine Nase rot war und du vor Erschöpfung den Berg nicht mehr hinauf kamst. Du hast mir das Skifahren beigebracht, noch bevor ich radfahren konnte. Das hast du natürlich auch mit mir geübt, bis ich es sogar freihändig konnte. Wir haben Fußball gebolzt und stundenlang im Hof Tischtennis gespielt.
Aber nicht am Samstagnachmittag. Dann schallte laut die Bundesliga-Konferenz auf WDR2 aus unserer Garage und vermischte sich mit den anderen Bundesliga-Konferenzen aus den Nachbargaragen. Das war dein Autowaschtag, an dem ich mich mit meinem Fahrrad beteiligte. Ich durfte dir den Gartenschlauch halten, dafür konnte ich von dir lernen, wie ich die Kette spanne oder das Rücklichtbirnchen ersetze.
Als junger Mann hast du deine Autos geliebt. Der Opel Rekord wurde gut gepflegt, aber der Monza war dein ganzer Stolz. Nur einmal im Jahr durfte Mama ihn fahren: wenn du am Heiligabend beim Baumschmücken mit Günter jede Kugel mit einem Schnäpschen am Baum fixiert wurde. Weißt du eigentlich, wie stolz ich auf mich war, als ich den Monza kurz nach meiner Führerscheinprüfung fahren durfte, am hellen Tag, ohne Anlass, einfach so?
Bei Regen spielten wir Halma, Mensch-ärgere-dich-nicht und Schwarzer Peter. Im Halma warst du unschlagbar. Ich habe immer sofort gewusst, wenn du den Schwarzen Peter hattest. Und wenn du bei Mensch-ärgere-dich-nicht deine Siegchancen schwinden sahst, flog das Brett im hohen Bogen durch die Küche.
Du hast mich die Liebe zum Wandern und zu den Bergen gelehrt. Wenn wir allein, mit den Naturfreunden oder mit Lothar, Renate und Jürgen in den Alpen waren, warst du selig. Jeden Tag eine neue Tour, in den Winter- und Osterferien auf Ski, in den Sommer- und Herbstferien in Wanderschuhen. Ich durfte schon als kleines Mädchen die steilsten Pisten mit dir herunter sausen. Von dir wusste ich, wie ich nach einem Sturz mit einem Ski ins Tal komme und dass ich gelben Schnee nicht essen sollte. Du hast mich beim Wandern angefeuert, wenn ich nicht mehr konnte, mich verteidigt, wenn meine Mutter mir aus Sorge zu viel verbieten wollte und immer daran geglaubt, dass ich mich in den Bergen zurechtfinde. Nur so konnte es kommen, dass ich noch vor meiner Einschulung in aller Herrgottsfrühe eine Bergwanderung mit meinem Freund Werner unternahm, von der keiner der Erwachsenen etwas ahnte. Schon in meinem ersten Jahr im Gymnasium durfte ich die Wanderplanung übernehmen, um möglichst viele Stempel für die Ötztaler Wandernadel sammeln zu können.
Kein anderer Mensch, den ich persönlich kenne, konnte so schön schreiben wie du. Eine kernige, gut lesbare Männerhandschrift, wenn es eine Notiz war. Feinste Deutsche Normschrift, wenn der Text für andere bestimmt war. An meiner Handschrift musstest du verzweifeln. Einmal hörte ich dich stöhnen: „Hat sie da etwas geschrieben oder ist da ein Huhn über das Blatt gelaufen?“ Kam ich mit meinen Hausaufgaben nicht zurecht, hast du dir mit Mama die Nächte um die Ohren geschlagen, um nach einem Lösungsweg zu suchen. Den habt ihr mir morgens erschöpft und zufrieden präsentiert und erklärt.
Du liebtest nicht nur die Berge, sondern alles Alpenländische. So konnte ich schon vor meiner Einschulung unter dem Einfluss ganztägiger Beschallung mit bayrischer Volksmusik eine grundsolide Abneigung gegen „Dicke-Backen-Musik“ entwickeln, die ich bis heute pflege. Als Ausgleich dafür hast du mit mir mindestens einmal im Jahr „Ein Münchner im Himmel“ angesehen und wir haben uns kaputtgelacht, wenn der Engel Aloisus das Frohlocken übte. („Sack Zement! Luja, sog I!“)
Das Villehaus in Hürth wäre ohne dich schon einige Jahrzehnte früher untergegangen. Neben deinem Beruf hast du hier ungezählte Abende und Wochenenden mit Klempnerarbeiten, Betongießen und Nachtdiensten verbracht. Du hast mir gezeigt, wie ich mit einer Stichsäge, einem Betonmischer und einem Wagenheber umgehe. Ich durfte schon als Schülerin für dich die Korrespondenz machen, mit ausländischen Gästen verhandeln und die Industriespülmaschine bedienen. Als 12-jährige hast du mich einmal mit über 20.000 DM Bargeld aus der Kasse auf dem Fahrrad nach Efferen zur Sparkasse geschickt. War das Leichtsinn oder Vertrauen? Ich werde nie vergessen, wie aufgeregt ich damals war.
Dein Zweitname war Pragmatismus. In den vielen Jahren als Hausreferent und Herbergsvater kam es dir immer darauf an, dass alle zufrieden waren und alles rund lief. Mit jedem Gast wusstest du etwas zu erzählen. Wenn eine unangemeldete Busladung Gäste vor der Herberge stand, reichte ein Blickwechsel mit uns Jugendlichen, um ‚mal eben im Saal 30 Betten aufzubauen. Als Dank durften wir hinter dem Haus zelten, als wir bei unserem Pfingstcamp in Heimbach vom Campingplatz geworfen wurden. Wichtigtuerei lag dir fern. Mehrfach hatten die Naturfreunde dir den Vorsitz angeboten, aber das war nichts für dich. Du wolltest mit den Händen arbeiten, mit den Gästen sprechen und einfach nur sichergehen, dass es allen gut geht.
Ich lernte von dir, dass ein einen großen Unterschied zwischen Schwaben und Baden gibt, warum ich besser nicht „Badenser“ sage und dass es „Badische und unsymBadische“ gibt. Deine Familie habe ich nie persönlich kennengelernt. Aber ich liebte die Stimme deiner Mutter, wenn sie „Mädele, gibscht mir dr Kurt?“ sagte und dann in diesem wunderschönen Dialekt mit mir erzählte, bis ich dich im Schuppen, im Archiv, im Jugendraum, im Heizungskeller oder unter dem Dach aufgespürt hatte. Sie verriet uns ihr Rezept für den warmen Kartoffelsalat, den du so gerne zu deinen Spätzle serviert bekamst.
Und sie ließ uns wissen, dass du zum Frühstück am liebsten „Zwoi woiche Oier in oiner Rhoi!“ mochtest. Immer wenn ich irgendwo zwei Eierbecher nebeneinander stehen sehe, denke ich bis heute an deine zwei weichen Eier in einer Reihe. Warum habe ich mich nie über diese Begrifflichkeit gewundert? Zwei Eier können gar nicht anders, als in einer Reihe stehen! Das war genau mein Humor. Genau wie deine Frage: „Wie heißt das Reh mit Vornamen?“ – „Kartoffelpü“. Du hast auch immer nette Grüße vom Bert ausgerichtet. Wenn ich nachfragte, von welchem Bert, war es immer ein anderer Bert. Du grüßtest vom Hubert, Engelbert, Gilbert, Friedbert und Herbert, aber auch vom Camembert, Alibert, Velbert, labert, bibbert und sabbert!
Tanzen gehörte nicht zu deinen Kernkompetenzen, dennoch war es für dich selbstverständlich, mich beim Abschlussball der Tanzschule und bei meiner Hochzeit mit einem ersten Tanz glücklich zu machen. Ob die anderen Rumba, Foxtrott oder Wiener Walzer tanzten, war dir Wurscht! Du nanntest es immer „Walzer linksrum“ und es fühlte sich an wie ein Discofox auf Glatteis.
Jeden meiner Freundinnen und Freunde hast du freundlich behandelt. Sie wurden aber auch auf Herz und Nieren überprüft und unter vier Augen offen kommentiert: „Wenn sie nochmal kommt, mach keinen Salat! Dieses Mädchen isst so langsam, dass der welk wird, bevor die Mahlzeit beendet ist.“ – „Was ist denn das für einer? Der trinkt kein Bier und weiß nicht einmal, was „Abseits“ ist.“
Dein Weg führte zu einer anderen Frau, die dir auch deinen großen Wunsch nach einem eigenen Kind erfüllte. Du warst der stolzeste Vater der Welt, als dein Sohn geboren wurde. Mich hast du dabei nicht aus den Augen verloren und mich auch durch mein erwachsenes Leben begleitet, wie es ein Vater gemacht hätte. Interessiert und unaufdringlich zugleich.
Als du sahst, dass mein Geld knapp war, stand jede Woche ein voller Reservekanister neben meinem Auto. So eine praktische Hilfe zeigte deine Liebe tausendmal mehr als es ein zugesteckter Geldschein gekonnt hätte. Du hast meine Hunde stets mit Leckereien versorgt und ihnen dabei von deinem Hund erzählt, den du als junger Mann hattest.
Eine meiner schönsten Erinnerungen ist die Zeit, in der Aurelia laufen lernte. Wenn wir dich im Villehaus besuchten, krabbelte sie auf dich zu, zog sich an dir hoch und wollte auf den Arm. Denn sie wusste, was jetzt kam: Du setztest sie auf den Servierwagen, riefst „Festhalten!“ und los ging die wilde Fahrt durch die Tagesräume, den Flur und die Küche. Sie gluckste und quietschte vor Glück, wenn es in eine Kurve ging. Langweilig war es nie mit dir. Das hatte dieses kleine Mädchen schnell heraus!
Danke, lieber Kurt, für alles, was du im Leben meiner Mutter, meiner Tochter und in meinem Leben bewegt hast. Du wirst immer einen Logenplatz in meinem Herzen haben.
Gut’s Nächtle! – Schlaf gut auf deiner neuen Wolke! Und viel Spaß beim Frohlocken!
Gut’s Nächtle! – diesen Nachtgruß werde ich immer mit dir verbinden.
Liebe Ingrid,
Was für ein wunderschön geschriebener Nachruf .
Mein herzliches Beileid für Deinen Verlust und das Du Dich nicht mehr verabschieden konntest.
Liebe Grüße
Susanne
Liebe Susanne, danke für deine lieben Worte. Das tut gut.
Kurt sitzt jetzt mit Sicherheit auf einer Wolke, frohlockt und freut sich an deinen Gedanken. Schade, dass du ihm all das nicht mehr sagen konntest. Danke für diesen bezaubernden Nachruf.
Liebe Evi, das glaube ich auch!
Was für ein liebevoller Abschiedstext. Bei den zwei Eiern in einer Reihe hatte ich spontan einen Gedanken – denn bei uns gibt es pro Person nur einen Eierbecher und wenn das erste Ei leer ist, wird die Schale rausgenommen und das zweite Ei in den Becher gesetzt. Vielleicht meinte die Mutter, dass er gern zwei Eier samt Eierbecher wollte. Viele Grüße und alles Liebe.
Oh, das ist ein Gedanke, der mir noch gar nicht in den Sinn gekommen ist. Klingt sehr plausibel, ich danke dir
Eine schöne Hommage an eine wohl seeehr seehr tollen Menschen.