img045Habt ihr auch gestern in den Medien von dem 82 Jahre alten Mann gehört oder gelesen, der in einer Essener Bank zusammenbrach? Vier Bankkunden haben den Sterbenden gesehen, ihm aber nicht geholfen. Ob er wohl zu retten gewesen wäre, wenn schon der erste oder der zweite geholfen hätte? Man weiß es nicht. Aber einen Versuch wäre es wert gewesen. Die vier Kunden hatten insgesamt bestimmt fünf Smartphones dabei. Selbst ohne jegliche Erste-Hilfe-Kenntnisse wäre also ein Notruf möglich gewesen.

Ich bin einerseits zutiefst geschockt angesichts dieses Verhaltens, andererseits wundert es mich nicht. Mehrere Generationen unserer Jugendrotkreuzler haben in den vergangenen Jahrzehnten einen Notfall vorgetäuscht, um dann enttäuscht festzustellen, wie wenige Menschen doch helfen. Die Menschlichkeit geht unserer Gesellschaft verloren. Nennt es christliche Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Solidarität, Sozialverhalten oder eben – wie wir Rotkreuzler – Menschlichkeit. Wichtig ist doch einfach, dass wir einander helfen, wenn wir in Not sind. Das macht doch unsere Gesellschaft aus, oder etwa nicht mehr?

In einem Kommentar zu unserer verkorksten Anreise nach Mallorca hatte ich ja kurz erwähnt, dass unser Lieblingsnachbar tot ist. Heinz wurde 80 Jahre alt, ich vermisse ihn sehr. Jeden Tag kam er mindestens einmal kurz von der anderen Straßenseite zu uns in den Hof, lachte mit den Kindern und plauderte etwas mit meiner Mutter. Er war ein sehr scheuer, gewissenhafter und ordnungsliebender Mann ohne Familie, der ziemlich zurückgezogen lebte. In den letzten Monaten war er einige Male bös mit dem Fahrrad oder im Keller gestürzt, sonst schien er uns gesund. Wie einsam er sich gefühlt haben muss, wird allen Nachbarn erst durch seinen Suizid klar. Gott sei mit ihm und hab ihn selig. Nun ist er bei seiner geliebten Margot und seine Einsamkeit hat ein Ende.

Gefunden wurde er von zwei Nachbarn. Der eine, nennen wir ihn AAAnton, hatte sich schon den ganzen Tag darüber gewundert, dass Heinz weder die Tageszeitung noch die Post reingeholt hatte. Er hat einen Schlüssel zu Heinz‘ Haus. Der andere, nennen wir ihn BBBernd, war den ganzen Tag unterwegs und wurde nach seiner Heimkehr von AAAnton gebeten, mit ihm zusammen nach Heinz zu schauen. Gemeinsam suchten sie nach Heinz, in der Erwartung, ihn nach einem erneuten Sturz irgendwo hilflos liegen zu sehen. Doch sie fanden ihn tot vor, nebst Abschiedsbrief. Das alles schon traurig genug, doch mir will seit gestern ein Satz von BBBernd nicht aus dem Kopf, der sich ohne jegliche Empathie bei meiner Mutter und mir beklagte: „Hätte AAAnton denn nicht allein gehen können? Er hatte doch den Schlüssel! Muss man sich von solch einem Idioten das Wochenende versauen lassen?!“

Was bitte? „…das Wochenende versauen lassen…“ Ich dachte zuerst, ich hätte mich verhört, doch meine Mutter gab mir den Satz wortgleich wieder. Wie kalt muss man denn sein? Heinz wählte den Freitod bestimmt nicht, um BBBernd zu ärgern. AAAnton suchte sich BBBernd bestimmt nicht aus, um ihn zu ärgern, sondern weil er der erste Mann war, der im in der Nachbarschaft einfiel oder über den Weg lief. AAAntons Frau ist sehr zart – für den Fall, dass Heinz gestürzt wäre, hätten ihm ja eher zwei Männer aufhelfen können. AAAnton hatte aus meiner Sicht auch guten Grund, nicht allein zu gehen – man stelle sich vor, Heinz wäre nur kurz zu einer Tagestour unterwegs gewesen, dann hieße es, AAAnton hätte in dessen Haus herum geschnüffelt. Dieser Halbsatz „…das Wochenende versauen lassen…“ geht mir nicht aus dem Sinn. Das war kein flapsiges Überspielen von Unsicherheit oder eine andere Formulierung für „Das war kein schöner Anblick, ich bin noch ganz durcheinander!“. Er zeigte auch in anderen Situationen ähnliches Verhalten, das alles andere als mitfühlend ist. Ihm ging es nur um einen aus seiner Sicht unnötigen Leichenfund nebst Gesprächen mit Rettungsdienst, Polizei und Kripo, wodurch ihm ein Fernsehabend vermasselt wurde. Wie kann ein Mensch nur so wenig Menschlichkeit und Empathie empfinden?

Meine Zwillinge sind noch keine 1 1/2 Jahre alt, aber schon voller Empathie. Wenn eine fällt, kommt die andere und mach „Ei!“. Als wir heute Vormittag mit dem Buggy unterwegs waren, konnten wir genau hören, wann Aurelia und Papa das Haus verließen, denn Bathida heulte und winselte. Es war durch die ganze Siedlung zu hören. Nele schreckte aus dem Halbschlaf auf, stellte sich in den Buggy und rief ganz aufgeregt „Daaa, Wauwau, da!“ und zeigte nach Hause. Alles klar! Natürlich trat ich im gestreckten Galopp den Heimweg an. Wenn meine Süße mich bittet, dem Hund zu helfen, mache ich das doch gerne.

Wann geht Menschlichkeit verloren? Was muss mit einem Menschen passieren, dass er unsozial wird? Ich würde dazu gerne einmal ein längeres Gespräch mit einem Fachmann oder einer Fachfrau führen, das ist bestimmt spannend und lehrreich zugleich.

 

2 thoughts on “Menschlichkeit

  1. Ja,Ingrid, solche Menschen sind meiner Meinung nach einfach nur bedauernswert und haben wahrscheinlich als Kinder nie Nest warme erfahren.Gerda hatte mir davon erzählt, und ich dachte nur-passt zu BB Bernd. Wir denken an BB Bernd’s Familie, die täglich mit dieser Kälte lebt …

    1. Liebe Melanie, du hast – wie so oft – den Nagel auf den Kopf getroffen. Wie gut, dass es immer noch so viele Menschen von der anderen Sorte gibt, wie z.B. Stephan und dich, die ihr Wohl nicht nur hinter das anderer Menschen stellen, sogar sogar in den Dienst notleidender Tiere.

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