Der Kopf im Sand

Mein Kind wollte von mir wissen, was ein Ostrich Effect ist. Auf meine Frage, wo sie den Begriff gehört hat, sagt sie: „In der Schule, zwei Lehrerinnen sprachen darüber, als sie auf dem Schulhof auf uns aufpassten – und ich verstand nicht, worum es ging.“ Ein kurzer Blick ins Wörterbuch bestätigt meine Vermutung: Es geht um Vogel-Strauß-Politik. Ich erklärte ihr dies mit dem Sprichwort Den Kopf in den Sand stecken und ihr fiel ein, dass wir im letzten Sommer auf der Straußenfarm in Emminghausen auch darüber gesprochen hatten. Reisen bildet also wirklich, wenn sie sich ein ganzes Jahr lang gemerkt hat, dass der Strauß den Kopf gar nicht wirklich in den Sand steckt, sondern es für den Betrachter nur so aussieht, weil der Strauß den Kopf so nah am Boden hat, dass er in der bodennahen Luftspiegelung oder im Gras verschwindet.

Nun musste ich ihr erklären, was englische Lehrerinnen in einer Kölner Schule mit solchen Straußen zu tun haben. Mir kamen verschiedene Erklärungen in den Sinn:

  • Den Tatsachen nicht in die Augen schauen wollen
  • Die Augen vor unangenehmen oder peinlichen Wahrheiten verschließen
  • Bestimmte unangenehme Fakten nicht zur Kenntnis nehmen wollen
  • Eine drohende Gefahr nicht sehen wollen
  • Eigene Pflichten nicht sehen wollen

Das verstand sie und wir verständigten uns darauf, dass die Lehrerinnen über jemanden gesprochen hatte, der nach dem Motto „Wenn ich den Kopf in den Sand stecke, sehe ich mein Problem nicht und es sieht mich auch nicht!“ lebt. Sie lachte, gab sich damit zufrieden und zog ihres Weges.

Will ich es wirklich nicht sehen?

In mir brodelte dieses Thema aber weiter: Es geht also bei allen Definitionen darum, dass ich objektive Fakten – Wahrheiten – Tatsachen – Gefahren – Pflichten subjektiv ignoriere, wenn ich den Kopf in den Sand stecke. Dabei spielt es keine Rolle, ob ich diese Fakten gar nicht erst einmal wahrnehmen will oder falsch einschätze oder nicht/falsch darauf reagiere.

Nun verstand ich den Vorwurf einer Bekannten, ich würde viel zu oft den Kopf in den Sand stecken. Ooooh, in mir stieg ein saures Gefühl auf. In der Tat muss ich von außen diesen Eindruck erwecken: mein Mailordner quillt über mit nicht beantworteten Mails. Auf meinem Schreibtisch warten einige Briefe auf eine Antwort. Meine ToDo-Liste wird von Tag zu Tag länger statt kürzer. Jeder, der mit seinem Anliegen in einer dieser Warteschleifen hängt, muss den Eindruck haben, ich drücke mich vor der Wahrheit.

Kritikfähigkeit

Andersherum wird ein Schuh daraus: eben WEIL ich der Wahrheit ins Auge blicke und auch unangenehmen – peinlichen – bedrohlichen Themen in aller Offenheit und mit der angemessenen Sorgfalt widmen will, bleibt meine Reaktion aus. Insofern kann man mich sicherlich als nicht besonders kritikfähig bezeichnen. Ich nehme mir Kritik sehr zu Herzen und beschäftige mich lange mit allen einzelnen Kritikpunkten. Schön blöd, wenn man ein Naturell hat, das in kleinem Karo gekleidet nicht nur Erbsen zählen, sondern hinterher auch noch Korinthen kacken will. Dazu zwei Beispiele:

1.) Ein Leserbrief zu einem Pilgerweg liegt – bis auf eine Zweizeiler-Eingangsbestätigung – unbearbeitet in meinem Postfach, weil ich einfach nicht die Zeit finde, all den Fragen und Kritikpunkten im Detail nachzugehen. Würde ich einfach nur schreiben „Liebe Leserin, danke für Ihre Hinweise, ich werde sie in Zukunft beherzigen.“, wäre die Sache lange vom Tisch. Aber das perfektionistische Harmonieschaf in mir möchte ihr zu jedem Stichpunkt auch eine Antwort geben. Aber: für sie muss es so aussehen, als stecke ich den Kopf in den Sand.

2.) Mit meiner Steuererklärung für 2017 bin ich erst Anfang letzter Woche fertig geworden. Nicht etwa, weil ich dieses unangenehme Thema nicht wahrnahm oder aussitzen wollte. Nein, ich suchte noch eine Honorarabrechnung. Ich hätte diesen Beleg auch einfach weglassen können, dann wären meine Einnahmen geringer gewesen und ich müsste weniger Steuern nachzahlen. Aber ich wollte bei der Wahrheit bleiben, also suchte ich Woche um Woche weiter, bat das Finanzamt um Fristverlängerung bzw. den Verlag um ein Ersatzdokument und fand – just zwei Stunden nach Absenden dieser Bitte –  auf der Rückseite eines wunderschönen Gemäldes meiner jüngsten Tochter eben diese Abrechnung. Fein säuberlich zwischen all ihren anderen Kunstwerken abgelegt hatte ich dies und fand es nur aus Zufall, weil ich zwei neue Gemälde dahinter legen wollte.

Selbstwert

Meine persönliche Vergangenheit machte mich zu einem Menschen mit geringem Selbstwertgefühl. Die Bedürfnisse anderer standen stets im Vordergrund. Meine Wünsche und Träume mussten hintanstehen, fielen oft auch einfach durchs Rost. Ich hatte zu funktionieren und gab keine Widerworte. Ich sehnte mich so sehr nach Anerkennung, nach Respekt, nach Freundschaft und wollte keinem zur Last fallen. Das hat sich bis heute nicht geändert. Auch das kann wie ein in den Sand gesteckter Kopf aussehen. Beispiele gefällig?

1.) Jahrelang war ich ja davon ausgegangen, keine Kinder haben zu können. Als eine Freundin im Sauerland endlich nach einigen Anstrengungen und Tiefschlägen eine kleine Tochter bekam, freute ich mich offen mit ihr über dieses kleine Wunder. Doch ich merkte, dass es ihr mir gegenüber irgendwie unangenehm war, sich über ihr Mutterglück zu freuen. Jedes Mal, wenn wir uns trafen oder telefonierten, kamen wir an einen Punkt, an dem sie ganz traurig wurde und mich dafür bemitleidete, dass es bei mir nicht klappte. So sehr ich betonte, dass ich mich doch mit ihr freue: Die Stimmung war dann hinüber. Einmal sagte mir ihr Mann, dass sie manchmal noch Tage nach unserem Treffen traurig war und sich nicht richtig an ihrem Mäuschen freuen konnte angesichts der Tatsache, dass mir dieses Glück verwehrt blieb. Ich sprach mit ihr darüber, dass es wohl besser ist, wenn wir uns nicht mehr treffen, denn ich wollte nicht, dass sie wegen mir traurig ist. Sie sagte, sie komme sich irgendwie als Verräterin vor, weil sie nun doch schwanger geworden sei.Meine Beteuerungen, es mache mir nichts aus, wies sie von sich und sie versprach mir, sich wieder bei mir zu melden, wenn sie das Gefühl hätte, mir ohne dieses Schuldgefühl begegnen zu können. Ich warte nun schon seit 1997 darauf, dass sie sich bei mir meldet. Vielleicht wartet sie aber auch immer noch darauf, dass ich mich melde und denkt, ich habe den Kopf in den Sand gesteckt…

2.) Die letzte Mail eines Freundes lag einen ganzen Monat unbeantwortet in meinem Eingangsordner, die eines guten Bekannten wartet nun schon seit April auf eine Antwort, ebenso erging es meinem Exmann mit einer seit sechs Wochen unbeantworteten SMS. Alles, was ich hätte schreiben können, wäre Gejammer gewesen. Ich hätte mich ausgeheult über je eine geplatzte gemeinsame Tour, über meinen hundsmiserablen Gesundheitszustand, meinen Stress, meine psychischen Belastungen, mein unerträgliches Schlafdefizit, meine Hilflosigkeit bei Fragen der Erziehung und Betreuung meiner Kinder, und und und. Ich wollte den Kerls aber nicht zur Last fallen. Ich wollte sie nicht mit meiner miesen Verfassung runterziehen. Also schwieg ich und ließ die Mails unbeantwortet. Wieder steckte mein Kopf vermeintlich im Sand, der in Wirklichkeit einfach nur vollkommen ermattet am Boden lag.

Überforderung

Jedes Mal, wenn mir jemand auf die Schulter klopft und sagt: „Wie DU das schaffst?! Drei Kinder, Hund und Haus. Ich bewundere dich!“ könnte ich losheulen oder schreien. Manchmal folgt dann noch der Satz „Ich könnte das nicht.“ oder „Hast du denn dann überhaupt noch Zeit für dich?“, dann ist mir eher nach würgen zumute. Welche Alternativen habe ich denn? Mich einfach um nichts davon mehr kümmern? Die Kinder und den Hund ins Heim geben? Das Haus verkommen und den Garten verwildern lassen? (Interessant ist übrigens, dass in diesen „Bewunderungen“ mein Broterwerb nie auftaucht. Das scheint nach außen weder zeitlich noch nervlich eine Belastung zu sein.) Ich versuche trotz dieser Vielfachbelastung immer noch alles am Laufen zu halten. Tätigkeiten wie Spülen, Wäsche, Aufräumen, Tanken, Lesenüben mit Aurelia, Einkaufen, Glascontainerbesuche, Hunderunden mit Bathida,… müssen regelmäßig, oft sogar täglich, erledigt werden, egal was außerdem zu tun ist. Was nicht zur Routine gehört, vergesse ich oft schlichtweg oder finde einfach keine Zeit dazu, weil es keinen fixierten Termin hat. Auch hierzu zwei Beispiele:

1.) Letzte Woche fragte ich nach Unterstützung für die Fotos für die Via Francigena. BiBo war so lieb, sich anzubieten und ich hatte ihr hier in den Kommentaren auch noch freudig gedankt. Erst jetzt, während ich dies schreibe, fällt mir wieder ein, dass sie auch eine Mail geschrieben hatte, auf die ich noch antworten muss, um Details zu verabreden. Ich habe die Mail gelesen, mich auch darüber gefreut, aber war einfach mit meinem Alltag so überfordert, dass ich noch keine Antwort zustande gebracht habe.

2.) Zum Abschluss meiner Köln-Recherchen wollte ich Ende Juni oder Anfang Juli alle meine Recherchehelfer auf ein Glas Apfelschorle und ein Würstchen in unseren Garten einladen. So hatte ich es mir im April/Mai vorgestellt. Zum Schuljahresende überrollte mich aber eine Woge von Arbeit, die langsam erst abflacht. Als ich nun wieder an meine Idee dachte, schaute ich in einen herbstlichen Regenschauer und stellte fest, dass ich (zumindest für dieses Jahr die Chance vertan hatte, einen schönen warmen Nachmittag im garten zu verbringen.

Schwerpunktsetzung

Ich habe einen ungewöhnlichen Sprachfehler: Ich kann nicht nein sagen. Das führt zu noch größerer Zeitnot. Und – noch schlimmer – wenn ich überfordert bin, neige ich zu falscher Schwerpunktsetzung. Ich kann wichtig und unwichtig oft nicht unterscheiden. Nach dem Motto Jetzt ist doch sowieso alles egal schreibe ich grade an einem viel zu langen Blogbeitrag, statt mich um die zeitkritischen Arbeiten für meine Verlage und um dringende Arbeiten im Haus zu kümmern. Das lässt sich nur schön reden, indem ich mir sage, dass es meiner Psyche gut tut, meine Gedanken zu dem Strauß mit dem Kopf im Sand in Worte zu fassen, um danach klarer zu sehen. Mitunter wirkt es aber auch nur so:

1.) Muss ich wirklich mehrere Tage in Folge in der Schule alte Schuluniform sortieren, obwohl ich dringend neue Arzttermine für Lunge, Knie/Füße, Zähne und jährlichen Gyn-TÜV verabreden müsste? Könnte das kein anderer machen? Nein, dann würde es nicht gemacht und die gespendeten Uniformteile würden ungeprüft in Säcke gestopft und in einem Container landen, der dann erst in einer Schule in Namibia geöffnet würde. Dort wüsste man schnell, was die Spender von den Empfängern halten. Denn ich sortiere täglich etliche löchrige, verschlissene, zerrissene und vollkommen verdreckte Uniformteile aus. Mir privat wäre es peinlich, wenn solche Sachen als Geschenk verschifft würden und die – damit gedemütigten – Menschen dafür auch noch Dankeschön sagen müssten. Ja, es ist falsche Schwerpunktsetzung, aber nicht aus Faulheit, oder weil ich den Kopf in den Sand stecke, um das Fortschreiten meiner Krankheiten nicht zu sehen, sondern aus humanitären und sozialen Empfindungen heraus.

2.) Muss ich ausgerechnet jetzt Handwerkerangebote einholen, obwohl ich dringend für Recherchen in die Eifel müsste? Nein, müssen muss ich nicht. Aber die durchzuführenden Arbeiten sind auch wichtig und man weiß ja, wie lange man mitunter auf freie Termine bei Handwerkern warten muss. Da ich mir eine Fertigstellung noch in diesem Jahr vorgestellt habe (in drei Monaten ist Weihnachten schon fast vorüber!), kann ich das auch nicht ewig auf die lange Bank schieben.

In diesem Sinne: seid gnädig mit mir, wenn ihr etwas von mir erwartet, was nicht oder nicht zum erwarteten Zeitpunkt passiert. Ich meine es niemals böse und stecke auch nicht den Kopf in den Sand, sondern habe ganz andere Sorgen mit der Erledigung dieser Aufgabe.

2 thoughts on “The Ostrich Effect – oder: wie viel Strauß steckt in mir?

  1. Auch ich denke manchmal „wie schafft Ingrid das alles blos“, aber ich gebe zu, ich denke seltener an Deinen Altag mit dem Hund und den Kindern, sondern mehr an Deine vielen Buchprojekte die ja, neben der immensen Schreib- und Recherchearbeit auch noch die Wanderungen und deren Planungen beinhalten. Das kommt aber vielleicht auch daher, das Andere eher Deine Leistungen als Familienmanagerin sehen und ich bekomme eher die Arbeit an den Büchern mit.

    Vielleicht solltest Du es dennoch manchmal, nur gelegentlich, mal mit NEIN probieren. Wir dürfen das!!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert