Zwischen ihrer Nachricht „Ingrid, ich habe Krebs!“ und ihrem Tod lagen nur 19 Tage. Einmal mehr hat mir der Krebs einen Menschen genommen. Einen Menschen, der so gerne seine Kinder weiter durchs Leben begleitet hätte. Einen Menschen, der in seinem Leben noch so viel vorhatte. Einen Menschen, der zornig starb.

Denn dieser liebe Mensch starb in einer Zeit, in der ein deutscher Gesundheitsminister bei Twitter nicht nur überoptimistisch verkündet, dass Krebs in zehn bis zwanzig Jahren heilbar sei, sondern „Tipps im persönlichen Kampf gegen Krebs“ gibt, deren Naivität schon fast strafbar ist: „Nicht (mehr) rauchen, sich mehr bewegen, gesund ernähren und die Haut vor UV-Strahlung schützen (Sonnencreme)“, schrieb Spahn.

Nein, das lieber Herr Spahn, mag vielleicht gegen Lungenkrebs und Hautkrebs schützen, aber bei weitem nicht gegen jeden Krebs.

Ich habe keine Einwände dagegen, dass ein Gesundheitsminister jede Gelegenheit ergreift, die Bevölkerung zu gesunder Lebensweise zu animieren. Was die Verstorbene und mich so fuchsig gemacht hat war das unzulässige Herunterbrechen auf die Formel „Lebe gesund und du bekommst keinen Krebs!“

Das ist respektlos, übergriffig und falsch! Von einem Minister ist eine differenzierendere Sichtweise zu erwarten. Zum Beispiel in einem dritten Tweet Hinweise auf die zahlreichen erforschten und vermuteten krebserregenden Substanzen, krebsförderliche Verhaltensweisen und – ganz wichtig – Vorsorgeuntersuchungen !!! Ich kann noch so gesund leben. Wenn ich zu keiner Vorsorgeuntersuchung gehe, kann ein Krebs nicht früh genug erkannt werden.

Es gibt sogar Studien, die ein erhöhtes Krebsrisiko bei Schichtarbeit erkannt haben wollen. Alles klar, meine lieben Polizisten, Chemikanten, Notärzte, Altenpfleger, Stewardessen, Hebammen, Amazonlagerarbeiter, Feuerwehrleute? Ab sofort bitte nur noch nine-to-five. Ihr seid ja zusätzlich auch noch Stress, Strahlung und Chemikalien ausgesetzt. Dann bleiben eben Verbrechensopfer, Schwerverletzte, Kranke, Gebährende, Pflegebedürftige, Reisende und Zuspätbesteller unversorgt. (Wobei die letzten beiden Personengruppen bestimmt eher ein Einsehen haben als die ersteren)

Ein Mensch (wie die Verstorbene) kann noch so genau darauf achten, keine karzinogenen Stoffe zu sich zu nehmen und trotzdem an Krebs sterben: Sie war zeitlebens Nichtraucherin, war normalgewichtig, ging zu den üblichen Kontrolluntersuchungen, war erst Anfang 40 und aß seit ihrer Jugend kein Fleisch mehr. Sie mied Alkohol, Koffein, rohe Champignons, China-Reis, Fritten und Chips. Sie achtete sogar bei ihrem geliebten Matetee darauf, dass er nicht heißer als 65°C war, weil er er bei höheren Temperaturen in einigen Studien als „wahrscheinlich krebserregend“ eingestuft wurde.

Sie passte in keine Risikogruppe und ist trotzdem tot. Wie kann das sein, Herr Spahn?

Gibt es irgendeinen Ort auf der Erde, an dem sie vor den Dieselabgasen von Autos, Kreuzfahrtschiffen und Containerschiffen sicher gewesen wäre? Wo niemand in ihrer Nähe gegrillt hätte oder am offenen Kamin gesessen hätte? Wo im Trinkwasser und in der Luft keine krankmachenden Chemikalien enthalten gewesen wären?

Voriges Jahr habe ich das Buch „Brüste umständehalber abzugeben“ von Nicole Staudinger gelesen, die hier um die Ecke lebte, als sie genau an ihrem 32. Geburtstag ihren Brustkrebs entdeckte. Sie nannte ihren Krebs Karl Arsch. Ich finde, das ist ein treffender Name.

Krebs ist unfair. Er nahm meiner Mutter noch als Schulmädchen die Mutter, später ihr selbst mehrere Organe. Auch ich selbst habe mehrere Krebsdiagnosen hinter mir. Wir hatten Glück im Unglück. Wir haben überlebt. Wenn auch nur knapp. Und es hätte auch ganz anders kommen können, ohne dass wir uns einen Vorwurf hätten machen müssen.

Wenn man die Statements von Herrn Spahn liest, muss man glatt meinen, dass sich Krebs vermeiden lässt. Nein. Ganz wichtig ist doch, dass niemand Schuld ist an seinem Krebs. Viele Tumorarten sind noch gar nicht genau genug erforscht, um die Ursachen sicher benennen zu können.

Krebs ist nicht gleich Krebs. Den einen Krebs gibt es nicht. Es gibt so viele verschiedene Krebsarten. Allein bei den Leukämien und den Lungenkrebsen gibt es etliche Arten. Krebs bedeutet nur, dass es sich um eine unkontrollierte Zellteilung handelt.

Natürlich begrüße ich die Entwicklungen in der Forschung, Vorsorge und Behandlung, die auch sicherlich einen verhaltenen Optimismus erlauben. Dennoch bin ich sicher, dass leider auch in 20 Jahren noch Menschen an Krebs sterben werden.

Umso wichtiger muss es doch für uns sein, vorher noch zu leben. Gut gelaunt und ohne schlechtes Gewissen. Wenn wir jeden Schritt und jeden Atemzug nur noch in Sorge um die damit verbundenen Risiken verbringen, ist das Leben doch gar nicht mehr lebenswert.

Zum Abschluss etwas Augenzwinkerndes aus einem der letzten Gespräche mit der oben erwähnten Verstorbenen: Die Substanzen aus all den vielen Karzinogen-Tabellen geben ja auch keine Garantie auf einen Krebstod. Wir haben es ja an Helmut Schmidt gesehen. Es ist noch niemand in jungen Jahren gestorben, der bis ins hohe Alter geraucht hat…

Das letzte Buch, das sie mir geschenkt hat.
Soo schlau und lebensklug!
Und heute auch tröstlich beim Malen

5 thoughts on “Krebs & Respekt

  1. Einen Menschen verlieren schmerzt …. Schuld ….tja ….Versäumnisse ….hmm …….. habe selber zwei Krebserkrankungen überlebt und in dieser Erkrankung auch Menschen getroffen die Gesünder gar nicht hätten Leben können … Liebe Freunde habe ich verloren …. Sie sind fort ……..wozu braucht es da noch Schuld .
    Vieles das noch vor 20 Jahren sicher getötet hätte ist heut Heilbarer , gut so und auch gut so weiter zu forschen .
    Der Minister ist eventuell in all seiner Jugend noch der wahren nähe dieser Krankheit entkommen sonst wäre selbst er Differenzierter ….
    Einen Menschen zu verlieren Schmerzt !!!

  2. Ich bezweifle, dass Herr Spahn irgendwo eine Garantie gegeben hat, dass man bei gesunder Lebensweise keinesfalls an Krebs erkrankt. Ich glaube, da bist Du gerade etwas unfair, vermutlich aus Trauer oder Wut um den Tod Deiner Freundin. Mein herzliches Beileid! Krebs ist Scheiße, gerade weil er so hinterfotzig ist! Da bin ich froh, dass ich bislang nur einen Herzinfarkt hatte.

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