In meiner Kindheit gab es Fleißkärtchen, wenn wir etwas besonders gut gemacht hatten. Mein 26 Jahre jüngeres Patenkind berichtete mir immer über Bienchen. Und nun kommt meine Tochter mit etwas nach Hause, was mich schwer an unsere guten alten Fleißkärtchen erinnert: A note home…
Also gibt es in dem vielfältigen Lob- und Belohnungs-System ihrer Schule tatsächlich auch Fleißkärtchen. Aurelia wurde schon Anfang des Monats dafür gelobt, dass sie einen Jungen, der neu in die Klasse gekommen ist, sehr freundlich und hilfsbereit empfing, ihm einiges erklärte und sich bei der Verteilung der Sitzplätze im Klassenzimmer neben ihn setzte. Ich habe diesen Zettel aber erst gestern in ihrem Deutschbuch gefunden. Letzte Woche bekam sie außerdem in meiner Gegenwart ein mündliches Lob von der Lehrerin, weil sie diesem Jungen konstant hilft und auch seinen Alltagshelfer (der Junge hat ein Handicap) in jedes Gespräch und jedes Spiel mit einbeziehen will.
Seit ihrem ersten Tag in der St. Georges School bekam sie zur Visualisierung von Lob einen Sticker auf die Jacke geklebt. Genauso geht es nun den Zwillingen. Ich finde dieses System gut, denn ich sehe den Aufkleber ja sofort und kann das Kind (bei Nele und Cari eher: die Erzieherinnen) fragen, wofür es den Sticker erhalten hat. Schon sind wir im Gespräch über ein ganz besonderes Erlebnis, das sich im Laufe des Tages ereignet hat. Die Kinder sind sehr stolz auf diese Auszeichnungen und durch sie hoch motiviert, dieses gewünschte Verhalten erneut zu zeigen. Die Gründe für einen Sticker sind vielfältig: den eigenen Platz am Essenstisch finden, allein die Schuhe anziehen, Pudding essen ohne kleckern, ein anderes Kind trösten, das erste englische Wort, Aufräumen ohne Aufforderung, Windelwechsel ohne zappeln,… Die Erzieherinnen lassen sich dabei etwas einfallen, denn sie wissen, wie motivierend diese Art von Lob ist.
Jeweils am Freitagnachmittag kommt die gesamte Jahrgangsstufe zusammen und eines der Kinder wird mit einer kleinen Urkunde zum „Star of the Week“ ausgezeichnet. Dafür muss man mehr leisten als für einen Sticker. Hier sind Mut, Überwindung, Tapferkeit, Fleiß oder Durchhaltewillen gefragt. Bei den Little Dragons werden Kinder zum „Star of the Week“ ernannt, die sich nach anfänglichen Schwierigkeiten dann doch eingewöhnt haben, die vom Schnuller oder von der Windel losgekommen sind, die ihre Angst vor dem Klettergerüst überwunden haben, bei der Geburt des Geschwisterchens das erste mal bei der Oma geschlafen haben, als einzige bei einer Aufführung auf der Bühne blieben statt zur Mama zu laufen, …
Eine Mutter in der Gruppe der Zwillinge mokierte sich Anfang letzter Woche über dieses Belohnungssystem. „Dann tun die Kinder etwas für die Belohnung und nicht aus innerer Überzeugung!“, nörgelte sie. Mag sein. Aber bestimmt nur in Einzelfällen.
Nach meiner Erfahrung sind diese Belohnungen unschädlich für die innere Überzeugung. Aurelia hätte diesem Jungen in jedem Fall die Freundschaft angeboten. Einfach, weil sie gerne neue Freundschaften knüpft. Diese Sorte Fleißkärtchen kannte sie noch gar nicht und würde sich für einen Sticker bestimmt nicht so viel Mühe geben. Andererseits ist sie durch dieses Lob in ihrer inneren Haltung bestärkt worden. Das gefällt mir gut.
Letzten Freitag kam übrigens der Sohn der eben genannten Mutter voller Begeisterung mit der Star of the Week-Urkunde auf sie zu gerannt. Er hatte sie erhalten, weil er sich so gut eingewöhnt hatte, dass er erst nach dem Mittagsschlaf abgeholt werden muss. Die Dame strahlte über alle vier Backen und warf sich in die Brust, als sie sich zu mir umdrehte: „MEIN Junge hat schon die erste schulische Auszeichnung erhalten!“, betonte sie. Ich gratulierte ihr und lobte den Jungen für seine tolle Leistung. Dass Nele und Cari schon seit Wochen dort schlafen und keinerlei Zeitbeschränkungen mehr haben, ließ ich unerwähnt. Das ist für die beiden keine Überwindung, sondern pures Vergnügen, denn sie sie sind liebend gerne dort. Also haben sie sich dafür auch keinen Star of the week verdient. Den wird es irgendwann einmal ganz unerwartet für eine ganz andere Leistung geben. Dessen bin ich sicher. Momentan ist es für andere Little Dragons als Motivation viel wichtiger als für meine beiden. Dass sie meine Stars of the Century sind, wissen sie bestimmt sowieso.
„Dann tun die Kinder etwas für die Belohnung und nicht aus innerer Überzeugung!“ Ja, das ist so die typisch deutsche Einstellung, leider immer noch. Fleißkärtchen gab es bei uns auch: Heiligenbildchen, die im Gebetbuch gesammelt werden konnten. Nicht wirklich kindgerecht.
Mein Opa fing irgendwann an, schuliche Leistungen zu belohnen: Eine Eins, eine zwei, ein gutes Zeugnis, mal gab es eine, zwei oder gar 5 DM. Meine Mutter hat das mit eben dem: „Dann tun die Kinder etwas für die Belohnung und nicht aus innerer Überzeugung!“ abgewürgt. Danach hat mir mein Opa ein viel zu hohes Taschengeld gezahlt, von dem ich ziemlich viel gespart habe und irgendwann Reitstunden finanziert, was aber für mich nicht die selbe Bedeutung hatte, wie die viel kleineren Belohnungen und der Stolz in den Augen des Opas.
Ich bin überzeugt, Kinder brauchen Lob, nicht unbedingt immer materiell, aber wenn sie nichts haben an dem sie eine Leistung festmachen können, dann irren sie ins Leere.
In den USA bekommt der Klassenbeste von der ganzen Klasse Applaus, in Deutschland wird er von der ganzen Klasse als Streber gemobbt.
Oh, ja, die Heiligenbildchen, danke fürs Erinnern. die gab es bei uns im Kommunionunterricht